![Pfarrer Dr. Andreas Wöhle, Präsident der Lutherischen Synode der Protestantischen Kirche in den Niederlanden. Foto: LWB/Albin Hillert Pfarrer Dr. Andreas Wöhle, Präsident der Lutherischen Synode der Protestantischen Kirche in den Niederlanden. Foto: LWB/Albin Hillert](/sites/default/files/styles/ino_plain_1x_xs/public/2025-02/Voices-andreas.jpg.webp?itok=aKoyUDk8)
Pfarrer Dr. Andreas Wöhle, Präsident der Lutherischen Synode der Protestantischen Kirche in den Niederlanden. Foto: LWB/Albin Hillert
Jazzmusiker, Kampfsportler, Pastor und Synodenpräsident Andreas Wöhle ermutigt Gemeindemitglieder, an unerwarteten Orten Spiritualität zu erleben
(LWI) – In Kochkursen, in der Jazzmusik oder in japanischen Kampfsportarten – Pastor Dr. Andreas Wöhle ist überzeugt, dass man Spiritualität auf viele verschiedene und unerwartete Arten und Weisen finden und erleben kann. Wöhle ist derzeitiger Präsident der Lutherischen Synode der Protestantischen Kirche in den Niederlanden, die 2004 durch den Zusammenschluss der lutherischen Kirche mit den reformierten Mehrheitskirchen in den Niederlanden gegründet wurde.
Gleichzeitig hat der in Deutschland geborene Wöhle eine Teilzeitstelle als Pastor der größten Gemeinde in Amsterdam und ist Vorsitzender einer Initiative zur Förderung von interreligiösem Lernen und interreligiöser Verständigung. Vormals arbeitete er als Regionalreferent für Europa beim Lutherischen Weltbund (LWB) und ist auch heute noch Mitglied in der LWB-Arbeitsgruppe zum jüdisch-lutherischen Dialog.
Im folgenden Interview spricht er über die Kirche, die er leitet, über seinen eigenen Werdegang und Weg in den kirchlichen Dienst sowie die vielen verschiedenen Arten und Weisen, wie er versucht, andere Menschen an seiner Leidenschaft für „Essen, Musik und all die schönen Dinge des Lebens“ teilhaben zu lassen.
Erzählen Sie uns ein bisschen von der lutherischen Kirche in den Niederlanden.
Uns gibt es hier seit dem 16. Jahrhundert, allerdings schon immer als eine kleinere Glaubensgemeinschaft neben den zwei sehr mitgliederstarken reformierten Kirchen. Bei unserem Zusammenschluss 2004 waren von den insgesamt rund 2,1 Millionen Mitgliedern etwa 10.000 oder 11.000 Mitglieder lutherisch. Heute ist die Zahl der Mitglieder insgesamt auf 1,48 Millionen gesunken und die Zahl der lutherischen Gläubigen ist innerhalb von nur 20 Jahren auf sechs oder sieben Tausend gefallen.
Als der kleinere Partner in dieser Gemeinschaft versuchen wir vor allem all die fröhlichen Aspekte des lutherischen Glaubens mit anderen Menschen zu teilen. Ich sage immer gerne, dass die reformierte Glaubenstradition eher einem Rechteck entspricht und die lutherische eher einem Kreis – dass wir das Leben und gutes Essen und gute Musik und all die schönen Dinge genießen. Wenn jemand sagt, dass es nur wenig lutherische Gläubige gibt, drehen wir den Spieß um und sagen, dass wir eine kleine Gruppe von Menschen sind, in der sich die Menschen wirklich kennenlernen und zu Gemeinschaften zusammenwachsen, die freundlich und offen sind und viele verschiedene Arten von Spiritualität zulassen.
Ist das ein erfolgreiches Modell für eine säkulare Gesellschaft wie die niederländische heutzutage?
Sagen wir so: Die Herausforderung besteht darin, dass wir zwar eine spirituelles „Produkt“ haben, das den Menschen gefallen würde, wir uns aber überlegen müssen, wie wir die Menschen dazu bringen, es zu probieren und tatsächlich zu mögen. Das ist nicht einfach, weil die Menschen seit vielen Generationen in der Überzeugung erzogen werden, dass die Kirche unterdrückerisch ist, moralisierend und nichts für intelligente Menschen. Wir müssen die jungen Generationen ansprechen, die keine Meinung zur Kirche haben, weil sie in ihren Augen genauso exotisch und unbekannt ist wie der buddhistische Tempel oder die hinduistischen Rituale. Wir müssen sie mit den großartigen Aromen und Traditionen des lutherischen Glaubens, die wir so gut kennen und schätzen, bekanntmachen.
Aber ist unsere Missionsstrategie erfolgreich? Nein, nicht wirklich, denn unsere Mitgliederzahlen schrumpfen und schrumpfen. Allerdings stellen wir auch fest, dass der Zusammenhalt in den Gemeinden zunimmt, wenn sie kleiner werden, und manchmal reicht es auch, wenn ein oder zwei neue Mitglieder im Jahr dazukommen, um als Kirche stabil zu bleiben. Drei Stichwörter, die in meinen Augen sehr gut zu uns passen sind daher: klein, schön und präsent.
Erzählen Sie uns etwas über sich selbst – stammen Sie aus einer traditionell religiösen Familie?
Nein, absolut nicht. Wie die meisten Familien in Deutschland sind wir nur an Ostern und Weihnachten in die Kirche gegangen. Mein Vater war Lehrer, meine Mutter war gelernte Buchhalterin, und die Grundhaltung, in der ich erzogen wurde, lässt sich wohl am besten zusammenfassen als „kein Interesse, aber nicht negativ“. Als Teenager wurde ich in den Konfirmationsunterricht geschickt, weil alle jungen Menschen der dominanten Kultur dorthin gingen. Ich hatte das Glück, an einem Ort, an dem alle Fragen, die ich als Teenager hatte, offene Ohren fanden und begrüßt und ernst genommen wurden, auf einen passionierten, warmherzigen Pastor zu treffen.
Mit 14 wusste ich, dass genau das der Ort war, an dem ich arbeiten und dem ich mein Leben widmen wollte. Ursprünglich hatte ich Pilot werden wollen, aber ich trage eine Brille und daher war das keine Option. Dann wollte ich Rechtsanwalt oder Sozialarbeiter werden. Als ich aber erkannte, dass ich mich in der Kirche für Gerechtigkeit, Frieden und die religiöse Erziehung und Prägung von jungen Menschen würde einsetzen können, war mir klar, dass ich Pastor werden wollte. Und diese Entscheidung habe ich nie bereut.
Ihr Theologiestudium haben Sie in Deutschland begonnen und dann sind Sie für Ihre Promotion und Ordination in die Niederlande gezogen, aber Sie haben sich immer auch für Musik interessiert, nicht wahr?
Richtig! Wie die meisten jungen Menschen habe ich zunächst Gitarre gespielt; denn das kann man gut am Lagerfeuer machen und Eindruck schinden. Nein, Spaß beiseite: Ich singe sehr gerne, ja, und meinen Körper zu nutzen, um Musik zu machen, ist ein wichtiger Teil meiner Spiritualität.
Später habe ich Klarinette und dann Saxofon gespielt, und habe den Jazz für mich entdeckt. Ich nutze Jazz für meine Theologie und Gemeindearbeit und habe großes Glück, eine Gemeinde gefunden zu haben, die das zulässt und bis zu einem gewissen Grad sogar Freude daran hat – wenn der Mainstream noch erkennbar ist. Außerdem bin ich Teil der „Blue Church“. Das ist ein erfolgreiches europäisches Jazz-Netzwerk, das Menschen in Kontakt bringt, die Musik machen und die Grenzen zwischen religiöser, säkularer und Jazzmusik im kirchlichen Rahmen erkunden.
Erzählen Sie uns etwas über Ihre Gemeindearbeit.
Meine Gemeinde ist die größte Gemeinde in den Niederlanden, ihr gehören etwa 2.000 Mitglieder an, aber ich bin nicht für alle allein zuständig. Unsere Kirche ist so organisiert, dass der- oder diejenige, der Präsident bzw. die Präsidentin der Synode ist (was dem Bischof in anderen Kirchen entspricht), einen weiteren Pastor oder eine weitere Pastorin an die Seite gestellt bekommt, der oder die ein Drittel der pastoralen Aufgaben übernimmt. Ich bin aber seit rund 15 Jahren Pastor dieser Gemeinde und möchte das auch gerne weiter sein. Als ich in Genf gearbeitet habe, hat es mir sehr gefehlt, als Gemeindepfarrer zu arbeiten, denn genau da bekommt die Kirche durch Hochzeiten, Beerdigungen und die alltäglichen Herausforderungen der Menschen den persönlichen Touch.
Sie haben auch Kochkurse für Ihre Gemeindemitglieder eingeführt, richtig?
Ganz genau. Ich konnte nicht immer gut kochen – genau genommen sagen meine Kinder, dass ich das Essen immer zerkocht habe oder habe anbrennen lassen, als sie noch klein waren. Aber hier in Amsterdam wohne ich direkt neben dem wunderschönen großen Marktplatz, wo es einen tollen Fischmarkt gibt; daher habe ich mich auf die Zubereitung von Fisch spezialisiert. Ich finde Geschmäcker sehr interessant und dachte anfangs, dass ein bestimmter Geschmack für alle Menschen immer gleich ist. Als ich aber Whiskey-Verkostungen als Hobby entdeckte, stellte ich fest, dass ich im Vergleich zu anderen Menschen wohl besonders feine Geschmacksnerven zu haben scheine.
Deshalb habe ich angefangen, Verkostungen für die Menschen in meiner Gemeinde anzubieten, und habe festgestellt, dass Schönheit, Geschmack und Heiligkeit drei Elemente sind, die irgendwie zusammenhängen. Wir hier in den Niederlanden können, wie ich finde, nicht mehr gut über Heiligkeit sprechen oder darüber, was unser Leben neben einfach nur essen und arbeiten ausmacht. Das habe ich dann versucht umzudrehen: Ich habe mir gedacht, wenn die Menschen lernen können, auf eine Art und Weise über Essen und Getränke zu sprechen, die jenseits ihrer alltäglichen Erfahrungen anzusiedeln ist, kann ich diese Sprache auch als eine Form spiritueller Kommunikation nutzen.
Ich habe angefangen, Kochkurse anzubieten, wo wir Gerichte zubereiten, bei denen man nicht auf den ersten Blick erkennen kann, woraus sie gemacht sind. Wenn man beispielsweise einen Schaum aus Tomatensaft macht, ist dieser Schaum weiß, aber schmeckt noch ganz intensiv nach Tomate. Die Teilnehmenden sollten beschreiben, was in ihrem Mund passiert, was ihnen wiederum hilft, ihre Sinne zu schärfen und die richtigen Worte zu finden. Und weil wir ja in einem kirchlichen Kontext sind, frage ich dann zum Beispiel: „Ok, und wie schmeckt Gnade für euch? Oder Sünde beispielsweise?“
Eine Person sagte einmal: „Sünde ist scharf und lässt meinen Mund brennen“, jemand anders sagte: „Nein, Sünde ist süß und wohlschmeckend und verführerisch“; und dann diskutierten wir plötzlich diese beiden Aspekte von Sünde. Ich habe die Kochkurse unter die Überschrift „Cooking Grace“ (Gnade kochen) gestellt und sie sind ein großer Erfolg, denn das Beste ist, dass alle gutes Essen und gute Gesellschaft lieben und sich gerne darüber austauschen, was das für sie bedeutet.
Ein anderes Hobby von Ihnen sind japanische Kampfsportarten. Wie ist diese Leidenschaft entstanden?
Nun ja, ich mache Judo schon seit ich 10 bin. Irgendwann haben meine Knie nicht mehr so gut mitgemacht, so dass ich mich nach etwas anderem umschauen musste, was ich auch als Erwachsener noch längerfristig machen kann. Da habe ich Shinkendo entdeckt, eine neuere Kampfsportart, die auf der Grundlage der alten Samurai Schwertkampftechniken entwickelt wurde. Es geht um körperliche Konzentration, die erzeugt wird durch die Bewegungen des Schwertes und den Verlust des Zeitgefühls, weil man einfach im Hier und Jetzt ist.
Für mich ist genau das auch ein Aspekt eines guten Gottesdienstes. Wenn der Gottesdienst gut ist, gelangt man in eine Sphäre der Heiligkeit, in der man sich als Teil von etwas Wundervollem fühlt und Zeit keine Rolle spielt. Wenn ein Gottesdienst schlecht ist, schaut man ständig auf die Uhr. Etwas ähnliches macht Shinkendo mit mir. Es schafft eine Art Meta-Zeit, bei der ich außerhalb der Zeit bin und trotzdem gleichzeitig im Hier und Jetzt. Und dann ist da auch noch die Spiritualität des Schwertes, das Schwert des Geistes, wie Paulus es nennt, das uns hilft, zu erkennen, wenn wir aus dem Gleichgewicht gekommen sind und uns damit vom Ziel entfernen. Shinkendo ist also ein wichtiger Teil meines spirituellen Lebens und fließt in meine Arbeit als Pastor ein.
Weiten wir den Blick etwas und schauen uns die Ebene der globalen LWB-Gemeinschaft an. Sie waren Mitglied in einer Arbeitsgruppe des LWB zu jüdisch-lutherischen Beziehungen – welche Bedeutung hat der interreligiöse Dialog für Sie?
Ich würde sagen, dass er Teil meines Selbstverständnisses ist, verwurzelt in der Tatsache, dass ich Deutscher bin, und der ganzen erschütternden Geschichte, die unser Land verursacht hat und die es immer noch zu bewältigen versucht. Zudem gibt es ein zweites Element, das in meiner Kindheit zu finden ist. Ich habe nicht nur Judo gemacht, sondern war auch Hochspringer im Bundeskader der Athletinnen und -Athleten. Anfang der 70er Jahre waren wir bei einem Wettkampf mit dem Maccabi Athletics Club in Tel Aviv. Ein bestimmter Tag ist mir unauslöschlich in meine Erinnerungen eingebrannt: Wir waren in einem Bus und neben mir stand eine ältere Person, die sich an einer Stange festhielt, um nicht aus dem Gleichgewicht zu geraten. Auf dem Arm sah ich eine Tätowierung – die KZ-Nummer. Und auch wenn das inzwischen mehr als 50 Jahre her ist, hat es mir eindrücklich klar gemacht, wie wichtig Geschichtsbewusstsein und Dialog in der Theologie, aber auch auf persönlicher Ebene sind.
Ich setze das hier in den Niederlanden als Vorsitzender einer Aktion praktisch um, die wir als „Wochenende zum Feiern und Lernen“ bezeichnen; dabei kommen christliche und jüdische Gläubige für ein ganzes Wochenende zusammen, das mit einem Schabbat-Gottesdienst am Freitag beginnt und mit einem Sonntagsgottesdienst endet. Wir sprechen über all die Dinge, die unser Leben berühren – von antisemitischen Erlebnissen über unser Lieblingsessen bis hin zu den Träumen, die wir für unsere Kinder haben. Wir sprechen darüber, welche Rolle die in unserer jeweiligen Religion verankerten Sichtweisen und Traditionen dabei spielen. Der Vorteil dieses Formats ist, dass die Menschen zwar aufhören können, miteinander zu sprechen, wenn es kompliziert wird, dass sie sich aber nicht komplett aus dem Weg gehen können und sich beim Frühstück am nächsten Tag wieder begegnen. Das kann Bindungen stärken und neue Wege und Möglichkeiten schaffen, voneinander zu lernen und Theologie zu betreiben.
Ich nehme an, der Auschwitz-Besuch im Rahmen der LWB-Vollversammlung in Krakau war ein besonders bewegender Moment für Sie?
Ja, das war er. Und ich war stolz, dass wir als Kirchengemeinschaft den Mut hatten, diesen Besuch mit allen Teilnehmenden zu machen, wohl wissend, dass er für die verschiedenen Menschen aus den verschiedenen Weltregionen unterschiedliche Bedeutung haben würde. Für manche war es vielleicht einfach nur ein Teil der Vollversammlung, aber für mich war es eine ganz wichtige Erfahrung.
Der Schwerpunkt der Vollversammlung und der neuen LWB-Strategie ist Hoffnung – was bedeutet Hoffnung für Sie in Ihrem Lebenskontext?
Hoffnung schafft einen Raum, in dem wir einander als Menschen begegnen können. In unseren zeitgenössischen Gesellschaften haben wir alle die Tendenz, uns in unsere Bubble zurückzuziehen, in der wir keinen Menschen begegnen, die anders denken als wir. Hoffnung hilft mir zu verstehen, dass eine Person mehr ist als das, was ich auf den ersten Blick erkennen kann; Hoffnung gibt mir Energie, mich mit dieser Person zusammenzusetzen. Die Kirche muss auch so ein Raum sein, in dem wir mehr zu hoffen wagen, als wir normalerweise erwarten würden, Kirche muss eine Quelle der Hoffnung sein und ein Gegengewicht zu dem, was in unseren Gesellschaften gerade passiert.