25 Jahre Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre

Die führenden Ökumene-Fachleute des LWB sprechen über 25 Jahre Fortschritt seit der Unterzeichnung der Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre. 

31 Okt. 2024
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Anlässlich des 25. Jahrestages der Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre (JDDJ) durch die christlichen Kirchengemeinschaften geben Generalsekretärin Pfarrerin Dr. Anne Burghardt (links) und der Assistierende Generalsekretär für ökumenische Beziehungen Prof. Dr. Dirk Lange (rechts) Einblicke in die anhaltende Wirkung der Erklärung auf die Gestaltung des theologischen Dialogs und die Förderung des Engagements für das Gemeinwohl. Fotos: LWF/Albin Hillert (links), Alessia Giuliani/CPP (rechts)

Anlässlich des 25. Jahrestages der Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre (JDDJ) durch die christlichen Kirchengemeinschaften geben Generalsekretärin Pfarrerin Dr. Anne Burghardt (links) und der Assistierende Generalsekretär für ökumenische Beziehungen Prof. Dr. Dirk Lange (rechts) Einblicke in die anhaltende Wirkung der Erklärung auf die Gestaltung des theologischen Dialogs und die Förderung des Engagements für das Gemeinwohl. Fotos: LWF/Albin Hillert (links), Alessia Giuliani/CPP (rechts)

Die fortwährende Bedeutung einer Rechtfertigung durch den Glauben und ihre Relevanz heute 

(LWI) – Als die Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre (GER) 1999 in Augsburg, Deutschland, unterzeichnet wurde, wurde sie als Meilenstein in den lutherisch-katholischen Beziehungen gefeiert, als ein Dokument, das einen der gravierendsten Konflikte aus der Reformationszeit beilegte. 

Sie lieferte lutherischen und katholischen Theologie-Fachleuten neue Impulse für die Zusammenarbeit und führte zur Erarbeitung eines 2013 gemeinsam veröffentlichten Texts mit dem Titel „Vom Konflikt zur Gemeinschaft“. Dieses richtungweisende Dokument gab einen Ausblick auf die gemeinsamen Feierlichkeiten von Papst und lutherischen Führungspersonen in den schwedischen Städten Lund und Malmö zum 500-jährigen Reformationsjubiläum – eine Veranstaltung, die nur wenige Jahrzehnte früher undenkbar gewesen wäre. 

Seit der ursprünglichen Unterzeichnung der GER durch die lutherischen Kirchen und die Römisch-katholische Kirche haben auch Führungspersonen der anglikanischen, der methodistischen und der reformierten Kirchen die GER unterzeichnet und sie damit zu einer einzigartigen multilateralen Plattform für ökumenisches Engagement gemacht. Welche Hoffnung aber gibt es anlässlich des 25-jährigen Jubiläums dieses bedeutenden Dokuments, das die christlichen Gemeinschaften in diesem Jahr feiern, dass es auch weiterhin sowohl den theologischen Dialog als auch das praktische Engagement für das Wohl der Allgemeinheit prägen und zu deren Vertiefung und Ausbau beitragen kann? 

Um diese Frage zu beantworten, haben wir mit zwei führenden Ökumene-Fachleuten beim Lutherischen Weltbund (LWB) gesprochen: mit Generalsekretärin Pfarrerin Dr. Anne Burghardt und mit dem Assistierende Generalsekretär für ökumenische Beziehungen, Prof. Dr. Dirk Lange. 

Erzählen Sie uns zunächst, was dieses Jubiläum für Sie bedeutet. 

AB: Die Unterzeichnung der GER war ein Meilenstein in der Ökumene, insbesondere für die lutherischen Kirchen und die Römisch-katholische Kirche. Sie bedeutete die Überwindung einer der größten theologischen Konflikte aus der Reformationszeit: die Rechtfertigungslehre. Sowohl im Verständnis der lutherischen Kirchen als auch im Verständnis der katholischen Kirche, ja sogar für alle christlichen Gläubigen, geht es bei der Rechtfertigungslehre um den Wesenskern unseres Glaubens: Unser Verständnis von Erlösung und unsere Beziehung zu Gott. Zu sehen, was wir in Bezug auf das gegenseitige Verständnis und die gemeinsamen Ziele seither alles erreicht haben, ist sehr bewegend. Ohne die GER wäre es zudem auch sehr schwierig gewesen, das Reformationsjubiläum als römisch-katholische und lutherische Gläubige gemeinsam zu feiern, wie wir es 2016 in Lund getan haben. 

Inwiefern prägt und formt die Rechtfertigungslehre, wie sie in der GER zusammengefasst ist, die Rolle und die Mission der Kirche in der Welt von heute? 

DL: Die Rechtfertigung aus Gnade durch den Glauben allein ist Wesenskern und Herzstück der lutherischen Theologie. Sie ist das Objektiv, mithilfe dessen wir sowohl unseren Glauben als auch die Grundfeste unserer christlichen Identität verstehen. Oder mit den Worten Luthers: Sie ist der Artikel, mit dem die Kirche steht und fällt. Das bringt zwei scheinbar widersprüchliche Wahrheiten zum Ausdruck, die Luther so wunderbar auf den Punkt brachte: „Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemandem untertan“ und „ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan“. Für uns bedeutet Rechtfertigung, dass wir ohne Verdienst allein durch die Gnade Gottes und nicht durch unser Tun oder unsere Leistungen gerechtfertigt sind. Dieses Verständnis befreit uns, unseren Nächsten zu dienen und für Gerechtigkeit in der Welt einzutreten, unseren Glauben mit konkretem Engagement zu verbinden. Diese zentrale Botschaft ist heute wichtiger denn je, denn wir leben in einer Welt, in der sich die Menschen oftmals gezwungen fühlen, ihren Wert und ihren Platz in der Gesellschaft „verdienen“ zu müssen. Die GER ruft uns auf, dieser Botschaft entgegenzutreten, indem wir bekräftigen, dass wir allein durch Gottes Gnade genug sind. Das genau ist auch der zentrale Punkt der Vision des LWB: befreit durch Gottes Gnade. 

Mit der Zeit haben sich weitere christliche Gemeinschaften der GER angeschlossen. Was bedeutet diese multilaterale Übereinkunft? 

AB: Seit der ursprünglichen Unterzeichnung haben sich der Weltrat Methodistischer Kirchen, die Anglikanische Kirchengemeinschaft und die Weltgemeinschaft Reformierter Kirchen diesem gemeinsamen theologischen Verständnis angeschlossen. Jüngst hat auch die Altkatholische Bischofskonferenz der Utrechter Union ihr Interesse an einem Beitritt zur GER zum Ausdruck gebracht, was die nach wie vor bestehende Attraktivität der GER deutlich macht. Jede christliche Weltgemeinschaft hat ihre eigenen vielfältigen Traditionen und einzigartigen Perspektiven eingebracht; so legen die methodistischen Kirchen beispielsweise einen Schwerpunkt auf die Heiligung und die reformierten Kirchen auf Gerechtigkeit. Das hat unser Verständnis von Rechtfertigung und ihrer Bedeutung insbesondere in Bezug auf Themen wie Gerechtigkeit, Versöhnung und Menschenwürde vertieft. Ich denke, das spiegelt auch einen breiter gefassten Aufruf zum Dienst als Zeuginnen und Zeugen für die Gnade Gottes und zur Zusammenarbeit von uns christlichen Gläubigen für das Wohl der Allgemeinheit wider. 

Was würden Sie Menschen heute antworten, die Probleme mit dem Begriff „Rechtfertigung“ haben oder sich darunter nichts vorstellen können? 

DL: Das ist ein sehr wichtiger Punkt. In vielen Kontexten mag „Rechtfertigung“ legalistisch oder veraltet klingen. Und dennoch ist das Konzept auch für uns heute noch von großer Relevanz, insbesondere wenn man beispielsweise bedenkt, dass es bei Versuchen der Selbstrechtfertigung oder des Sich beweisen Müssens oftmals um persönlichen Erfolg, Leistung, Wohlstand und/oder Status geht. Wir können das in der Bewegung zum Wohlstandsevangelium und fundamentalistischen Ansätzen beobachten, die den Gläubigen lange „To-do-Listen“ auferlegen, um die Gnade Gottes zu verdienen. Die GER ruft uns in Erinnerung, dass wir unseren Wert nicht erst verdienen müssen: Er ist uns durch Gottes Gnade ohne Verdienst und frei gegeben. In einer Welt, die mitunter ungnädig wirkt, ist diese Botschaft zugleich revolutionär und tröstlich. Die Menschen scheinen immer weniger bereit zu sein, zu vergeben und versöhnlich zu sein. Und dennoch kommt Gott in genau diesen zerbrochenen und gespaltenen Kontext und schenkt in Jesus Christus Hoffnung. Unsere Aufgabe ist es, diese Gnade in einer Sprache zum Ausdruck zu bringen, die in der Welt von heute verstanden wird – wir müssen auf dynamische, sachdienliche und verständliche Art und Weise über Vergebung, Gerechtigkeit und Versöhnung sprechen. 

Was waren, wenn Sie auf die vergangenen 25 Jahre zurückblicken, in Ihren Augen die wichtigsten Erfolge und die größten Herausforderungen in der Geschichte der GER? 

AB: Einer der größten Erfolge der GER war die Einführung des Konzepts eines so genannten „differenzierten Konsenses“. Dieses Konzept ermöglichte es uns, trotz unserer theologischen Differenzen zusammenzukommen und gleichzeitig die Integrität unserer jeweiligen Glaubensüberzeugungen zu bewahren. Auch hat sich dieses Konzept in anderen Dialogen über die GER hinaus als sehr wichtig erwiesen, weil es ein Modell für andere ökumenische Bestrebungen wie die jüngst veröffentlichte, historische Gemeinsame Erklärung zum Filioque der lutherisch-orthodoxen Dialogkommission bietet. Im Rahmen der Konsultation in Notre Dame 2019 haben fünf weltweite christliche Gemeinschaften versucht herauszufinden, wie wir diesen Konsens praktisch umsetzen und noch wirksamer gemeinsam Zeugnis ablegen können. Und trotzdem gibt es natürlich auch noch Herausforderungen zu meistern – insbesondere zum Beispiel, wie wir dem gemeinsamen Verständnis dieser Glaubenslehre in unserem alltäglichen Zeugnis Ausdruck verleihen. 

Wenden wir für unsere letzte Frage den Blick in die Zukunft: Welche Hoffnungen haben Sie für die GER und ihre Bedeutung für die Ökumene in Zukunft? 

DL: Ich hoffe, dass die GER auch weiterhin christliche Gläubige in aller Welt animiert, engagiert an Gottes Versöhnungswerk mitzuwirken. Sie ruft uns in Erinnerung, dass Einheit ein Prozess ist, ein Bekenntnis zum Teilen, zum Lernen, zum gemeinsamen Wachsen als der eine Leib Christi. Jüngst konnten wir uns dafür bei der Bischofssynode zum Thema Synodale Kirche in Rom einsetzen, an der der LWB, der Weltrat Methodistischer Kirchen, die Anglikanische Kirchengemeinschaft und die Weltgemeinschaft Reformierter Kirchen zusammen mit katholischen Delegierten nicht nur als Beobachtende, sondern als Teilnehmende mit Rederecht teilnahmen. 

AB: Ich hoffe, dass wir neue Möglichkeiten und Wege finden werden, die Botschaft der Gnade und der Einheit in unseren Kirchen und im öffentlichen Raum zu kommunizieren, um damit Narrativen entgegenzuwirken, die spalten und isolieren. Unsere laufenden und anstehenden Dialoge und ökumenischen Partnerschaften geben uns die einzigartige Möglichkeit, diese Vision Realität werden zu lassen. 

LWB/A. Danielsson, P. Hitchen