Chile: Raum für Versöhnung bieten

Aus einer katholischen Familie stammend, hat Bischof Esteban Alfaros als junger Mann eine spirituelle Heimat in der lutherischen Kirche gefunden. Als Leiter einer Jugendgruppe, Pastor und jetzt Bischof leitet er eine Kirche mit deutsch- und spanischsprechenden Gemeinden. Im folgenden Interview aus der Reihe „Stimmen aus der Kirchengemeinschaft“ spricht er über den Glaubensalltag in verschieden Konfessionen, und die Bedeutung von Versöhnung in der komplexen chilenischen Geschichte.

22 Nov. 2024
Image
Bishop Esteban Alfaro preaching in the Lutheran Church of the Redeemer in santiago de Chile. Photo: ILCH

Bischof Esteban Alfaro predigt in der Erlöserkirche in Santiago de Chile. Foto: ILCH

Bischof Esteban Alfaro über Kirche in einer gespaltenen Gesellschaft

(LWI) – Als er 1979 Mitglied der Lutherischen Kirche in Chile wurde, musste anfangs immer jemand für ihn übersetzen: die Mitglieder der Jugendgruppe, der sich Bischof Esteban Alfaro als junger Mann anschloss, sprachen nur Deutsch. Später öffnete sich die Kirche der örtlichen, spanischsprechenden Bevölkerung. Heute engagiert sie sich in diakonischer Arbeit für Bedürftige, und fördert als Stimme für Versöhnung den Dialog zwischen den politischen Lagern.

Wann haben Sie zum Glauben gefunden und was hat Sie dazu bewegt, Mitglied der lutherischen Kirche zu werden?

Meine Heimatkirche ist heute die Lutherische Kirche in Chile, genau genommen die Erlöserkirche in Santiago. Ich bin in einer römisch-katholischen Familie aufgewachsen, in der der Glaube immer präsent war; er wurde praktisch gelebt. Dank meiner Eltern, die mich von Kindesbeinen an ihrem Glauben teilhaben ließen, war Gott immer Teil meines Lebens. Zwei Tanten von mir waren Nonnen in der Ordensgemeinschaft der Salesianer Don Boscos, eine Gemeinschaft mit dem Ziel, jungen Menschen durch ihr Netzwerk von Schulen den Zugang zu Bildung zu ermöglichen. Das hat in mir ein solides christliches Fundament geschaffen, auch wenn meine Eltern in ihrer Haltung eher „christlich“ als traditionell katholisch waren.

Mit 14 nahm ich die Bibel meiner Mutter in die Hand, die sie immer auf ihrem Nachtisch liegen hatte, und las die Evangelien zum ersten Mal selbst. Ich war fasziniert. Das Bild von Jesus, das in meinem Kopf entstanden war, war so eindrucksvoll, dass es mich verändert hat. Meine Träume, meine Ziele – alles veränderte sich. Ich hatte auf einmal das Gefühl, dass mein Leben einen tieferen Sinn hatte, einen Sinn, der mit wichtigen existentiellen Fragen zu tun hatte.

Wie sind Sie dann zum lutherischen Glauben gekommen?

Bis zu meinem 18. Geburtstag war ich Mitglied in der katholischen Kirche, aber dann hatte ich das Bedürfnis, mich mit anderen christlichen Glaubensgemeinschaften zu beschäftigen, um meinen Glauben auf neue Art und Weise zu vertiefen. Das war lange bevor es das Internet gab, also habe ich ins Telefonbuch geschaut. Es gab so viele Optionen, dass ich beschloss, den Zufall entscheiden zu lassen. Mein Finger landete auf der Lutherischen Kirche in Chile. Also rief ich dort an und Pastor Richard Wagner lud mich in die Jugendgruppe ein.

Die Treffen der Jugendgruppe fanden immer sonntags statt, aber ich war so ungeduldig und neugierig, dass ich schon gleich am Mittwochmorgen ging, um mir die Kirche anzuschauen. Die Tür stand einen Spalt offen, also ging ich hinein. Ich wurde von zwei jungen Menschen begrüßt und habe ihnen von meiner spirituellen Suche erzählt. Auch sie haben mich in die Jugendgruppe eingeladen, bei der ich schnell dazugehörte, obwohl alle dort Deutsch sprachen – und ich gar kein Deutsch konnte. Eine der jungen Frauen übersetzte immer für mich. In den folgenden zwei Jahren wuchs ich mit dieser Gruppe und übernahm schließlich mit einer anderen Person zusammen die Leitung. Als wir anfingen, immer mehr Spanisch zu sprechen, kamen auch immer mehr andere junge Menschen dazu.

Das zu erleben war unglaublich erfüllend. Und auch der lutherische Gottesdienst sprach mich sehr an. Als ich mein Studium abgeschlossen hatte, fühlte ich mich berufen, auch noch Theologie zu studieren. Ich begann mein Studium an einem baptistischen Seminar und wechselte später an ein presbyterianisches. Irgendwann erhielt ich ein Stipendium vom Lutherischen Weltbund (LWB), welches m ir ermöglichte, sieben Jahre in Brasilien zu studieren.

In Brasilien habe ich meine Frau kennengelernt, unsere erste Tochter wurde dort geboren. Einige Zeit später kehrten wir nach Chile zurück, wo unsere anderen beiden Kinder geboren wurden und ich im Alter von 32 Jahren begann, als Pastor zu arbeiten.

Wie sind Sie Bischof geworden?

Eigentlich sollte ich heute bereits im Ruhestand sein, aber ich hatte den starken Wunsch, der Kirche weiter zu dienen. Ich sprach also mit unserem Kirchenpräsidenten und der war mit meiner Entscheidung einverstanden. Schließlich bat mich meine Kirche, das Amt des Bischofs zu übernehmen. Anfangs zögerte ich, aber nachdem mich einige Menschen ermutigt hatten, sagte ich doch zu.

Können Sie uns Ihre Kirche beschreiben?

Unsere Kirche ist klein. Wir haben zehn Gemeinden, zehn Pfarrpersonen und insgesamt rund 2.600 Mitglieder. An den Gottesdiensten nehmen deutlich mehr Menschen teil, aber die sind nicht alle als Mitglieder bei uns registriert. Unsere Wurzeln sind im deutschen Kulturkreis und wir verwenden die preußische Liturgie sowohl auf Spanisch als auch Deutsch. Etwa ein Viertel unserer Ortsgemeinden sind deutschsprachig, der Rest ist spanischsprachig.

Als 1846 die ersten deutschen Auswanderinnen und Auswanderer nach Chile kamen, verbot die Regierung allen, die nicht den katholischen Glauben praktizierten, das öffentliche Feiern von Gottesdiensten. Das führte zu einer Kirchenkultur, die mehr als 100 Jahre lang vollkommen abgeriegelt war. Erst 1982 öffnete sich unsere Kirche der chilenischen Bevölkerung. Seither setzen wir uns sehr stark dafür ein, die Kirche einladender zu machen, und legen einen Schwerpunkt darauf, auf Spanisch zu arbeiten.

Die Menschen, die zusammen unsere Kirche bilden, sind unser größtes Kapital und höchstes Gut – ihr Engagement, ihre Zeit und ihre Beiträge dazu, unsere Gemeinschaft am Leben zu halten und das Evangelium zu verkündigen.

Die jüngere Geschichte hat in der chilenischen Gesellschaft viele Narben hinterlassen. Spielt die Kirche eine Rolle in der Versöhnungsarbeit?

Die lutherischen Gemeinden bieten heute Raum für Zusammenkünfte und gegenseitige Unterstützung, sie helfen den Gemeinschaften, wieder zusammenzufinden, und engagieren sich für eine Zukunft, die alle einschließt.

Das Erbe der Militärregierung spaltet Chile auch heute noch und hat immer noch Auswirkungen auf alle Bereiche der Gesellschaft, auch unsere Kirche. Unsere Mitglieder haben unterschiedliche politische Haltungen, aber wir vermeiden es, über Parteipolitik zu sprechen. Unser Fokus liegt auf Christus.

Die Narben der damaligen Zeit haben auch heute noch Auswirkungen auf alle Menschen in Chile. Daraufhin zu wirken, dass diese Narben heilen können, ist eine fortwährende Aufgabe, aber nicht nur für unsere Kirche, sondern für das gesamte Land. Wir arbeiten mit der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Chile (IELCH) zusammen, um uns gemeinsam für das Heilen dieser Wunden einzusetzen.

Es ist ein schwieriger Weg, aber wir bekennen uns nach wie vor überzeugt zur Einheit. Wir haben uns dem Dialog verschrieben, wollen einander aufgeschlossen begegnen und eine gemeinsame Basis finden. Das wird seine Zeit dauern, aber wir sind überzeugt, dass es der einzige Weg in die Zukunft ist.

Was bedeutet es für Ihre Kirche Mitglied in der lutherischen Kirchengemeinschaft zu sein?

Lange Zeit war unsere Kirche relativ isoliert, aber das änderte sich, als Bischof Orlando Holz Kontakt zum LWB aufnahm. Der LWB-Gemeinschaft beizutreten hat uns geholfen, eine Beziehung zur weltweiten Gemeinschaft von lutherischen Kirchen aufzubauen, Themen von globaler Bedeutung zu verstehen und in einer gemeinsamen theologischen Vision Orientierung zu finden.

Teil der lutherischen Kirchengemeinschaft zu sein ist für uns mehr als nur eine Mitgliedschaft in einer Organisation – es geht darum zu erkennen, dass wir Teil von etwas Größerem sind.

Esteban ALFARO, Bischof der LKC

Teil der lutherischen Kirchengemeinschaft zu sein ist für uns mehr als nur eine Mitgliedschaft in einer Organisation – es geht darum zu erkennen, dass wir Teil von etwas Größerem sind. Es ermöglicht uns, anderen zuzuhören, aus den Erfahrungen anderer Kirchen zu lernen und aus unserer Vielfalt Kraft zu schöpfen.

LWF/C. Kästner-Meyer