COVID-19: Pflege und Fürsorge für Demenzerkrankte

06 Apr. 2020
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Foto: Cristian Newman, Unsplash

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Interview mit Pfarrerin Kersten Storch, Protestantischen Kirche in den Niederlanden

UTRECHT, Niederlande/GENF (LWI) – Die zur Eindämmung der Corona (COVID-19)-Pandemie ergriffenen Maßnahmen und Beschränkungen zwingen die meisten Menschen zu Selbstisolation in den eigenen vier Wänden und zu räumlicher Distanzierung von anderen Menschen. Pfarrerin Kersten Storch, eine Pastorin der Protestantischen Kirche in den Niederlanden (PKN), geht jedoch weiterhin jeden Tag aus dem Haus, um ihrer Arbeit mit den Bewohnerinnen und Bewohnern einer Seniorenresidenz nachzugehen.

Storch hat sich auf die seelsorgerliche Betreuung von Menschen mit Demenzerkrankungen spezialisiert. Die Seniorenwohnanlage De Wartburg, rund 20 Minuten außerhalb von Amsterdam gelegen, bietet 24 Seniorinnen und Senioren betreutes Wohnen in eigenen Wohnungen. Von diesen 24 Bewohnerinnen und Bewohnern leiden etwa 8 unter Demenzerkrankungen.

Die weltweite Dachorganisation von Alzheimer-Gesellschaften „Alzheimer‘s Disease International“ definiert Demenz als eine Sammelbezeichnung für fortschreitende Gehirnerkrankungen, die Beeinträchtigungen des Gedächtnisses, des Denkvermögens, des Verhaltens und der Gefühlswelt zur Folge hat. Die bekannteste Form der Demenz sei Alzheimer.

Der Verlust des Gedächtnisses und Probleme beim Verstehen von dem, was andere Menschen sagen, sind zwei der größten Herausforderungen für Demenzkranke. Je nach Stadium der Krankheit können die Demenzkranken verstehen – oder eben nicht –, was die aktuelle COVID-19-Pandemie bedeutet und warum die Menschen, die sie normalerweise regelmäßig besuchen, nun nicht mehr kommen.

Verstehen die Menschen, um die Sie sich kümmern, warum sie niemand mehr besucht?

Von den acht Demenzkranken verstehen vielleicht zwei die aktuelle Situation wirklich. Sie schauen ja Fernsehen und verstehen auch, was da gesagt wird, weil ihre Demenz noch kein fortgeschrittenes Stadium erreicht hat.

Ein paar andere verstehen es vielleicht ansatzweise, vergessen es aber schnell wieder. Wir müssen ihnen dann immer wieder erzählen, was gerade los ist. Und schließlich gibt es jene Menschen, die gar nicht verstehen, was gerade los ist. Meine Erfahrung in der Arbeit mit Demenzkranken ist, dass die Emotionen und Gefühle dieser Menschen wieder immer direkter und akuter werden. Insbesondere die letztgenannte Gruppe von Menschen spürt also ganz genau, dass etwas los ist, kann es aber nicht rational erfassen oder verarbeiten. Das führt unweigerlich dazu, dass diese Menschen Angst haben, und sich unsicher und verloren fühlen.

Wie kann das Pflege- und Betreuungspersonal diese Menschen beruhigen?

In unsicheren und hektischen Situationen muss es das Ziel des Pflege- und Betreuungspersonals sein, so viel Normalität wie möglich aufrechtzuerhalten, also den normalen Tagesablauf beizubehalten. Wenn zum Beispiel normalerweise nachmittags der Ehemann zu Besuch kommt und das jetzt nicht mehr geht, gerät der gewohnte Tagesablauf einfach durcheinander. Bei anderen Punkten im Tagesablauf können und müssen wir daher noch strikter sein: Es wird zum Beispiel weiterhin immer zu der gleichen Zeit gegessen, und auch die Zeiten für einen Spaziergang innerhalb der Einrichtung bleiben gleich. Dass regelmäßige Besuche tagsüber nicht mehr möglich sind, ist im Moment leider so. Als Pflege- und Betreuungspersonal ist es aber trotzdem unsere Aufgabe, so viel Normalität wie möglich aufrechtzuerhalten.

 

Pfarrerin Kersten Storch leitet einen Gottesdienst. Foto: PKN

Wie kann ein möglichst regelmäßiger Tagesablauf Ersatz für den Besuch eines geliebten Menschen sein?

Das kann er natürlich überhaupt nicht und das genau ist einer der Gründe, warum ich weiterhin hier in die Wohnanlage kommen muss. Mich kennen die Menschen, ich bin ein bekanntes Gesicht für sie. Immer wenn ich komme, sehen sie mich und sie wissen, dass wir uns kennen.

Zudem ist es bei mir relativ einfach, weil sie mich einfach „Frau Pastorin“ nennen können – eine Berufsbezeichnung. Dadurch umgehen wir den Stressfaktor, dass sie sich meinen Namen merken müssen.  Mich als „Frau Pastorin“ anzusprechen, kennen sie außerdem aus ihrer Vergangenheit, denn so wurden Pastorinnen und Pastoren generell angesprochen. Ich repräsentiere ja das kirchliche Amt, die Kirche – und die Kirche, die kennen sie.

Auch für die Angehörigen kann die Isolation aufgrund der Coronavirus-Pandemie sehr schwer sein – bieten Sie auch den Familien Beistand an?

Nein, nicht direkt. Aber bei der Unterstützung und dem Beistand für die Familienangehörigen hilft das Netzwerk für Familienhilfe der Kirche. Ich biete allerdings schon auch eine gewisse Unterstützung an, indem ich den Familien per WhatsApp oder E-Mail Auskunft darüber geben kann, wie es ihren Angehörigen geht, wenn sie das wünschen.

Wie hat sich die Gottesdienstpraxis für die Demenzkranken durch COVID-19 verändert?

Hier in De Wartburg feiern wir sonntags in der hauseigenen Kapelle Gottesdienst. Mir steht dort ein Musiker, ein Mitglied des Gemeinderates und jemand für die Technik zur Verfügung. Derzeit übertragen wir die Gottesdienste aus der ansonsten leeren Kapelle live, so dass die Menschen aus ihren eigenen Wohnungen ringsherum daran teilnehmen können. Ich habe zwei Wochen gebraucht, um die Technik zu lernen, die man beherrschen muss, um einen Gottesdienst live zu übertragen, aber schließlich hat es in Zusammenarbeit mit meinem Team gut funktioniert.

Haben Sie Angst, Sie könnten sich bei der Arbeit mit dem Coronavirus infizieren?

In De Wartburg gibt es bisher keine bekannten COVID-19-Fälle.

Sobald jemand positiv getestet wird, wird allerdings alles abgeriegelt werden müssen. Selbst ich könnte nicht mehr hinein. Offengestanden stehen wir dann vor einem ethischen Problem. Was machen wir mit einer infizierten Person in einer Wohneinheit mit acht oder mehr Menschen, die gar nicht verstehen, was vor sich geht? Wie können wir die anderen Menschen in dieser Wohneinheit schützen? Leider haben wir nicht auf alle Fragen eine Antwort, aber ich bin Mitglied im Ethikrates des Unternehmens, das diese Seniorenheime betreibt, und wir arbeiten engagiert an Lösungen. Jedoch nicht nur der Ethikrat, auch alle anderen Mitarbeitenden, das Pflegepersonal, die Pflegehelferinnen und -helfer und Haushälterinnen und Haushälter helfen, dass wir gut auf positive Testergebnisse vorbereitet sind.

Was ist Ihre Motivation für die Arbeit mit alten Menschen und mit Demenzkranken?

Uns um sie zu kümmern, ist unsere Pflicht als Menschen und als Christinnen und Christen. Es ist keine Belastung für mich, weil ich ein Mensch bin. Und wir Menschen müssen uns um einander kümmern. Natürlich ist es manchmal nicht einfach, weil wir Pflege- und Betreuungspersonen eine andere Art der Kommunikation lernen müssen, wenn Sprache nicht mehr funktioniert. Je weiter die Demenz fortschreitet, und je schwieriger sich die Erkrankten an die Bedeutung von Wörtern erinnern können und sich dann einfach ausklinken, desto eingeschränkter sind die Kommunikationsmöglichkeiten. Deshalb müssen die Pflegenden und Betreuenden auf eine andere Ebene der Kommunikation umschwenken – entweder Gefühle und Emotionen ansprechen oder visuell kommunizieren.

Es geht darum, im Moment zu leben. Als geistig gesunde Menschen bewegen wir uns immer auf etwas zukünftiges hin, aber das Ziel für Demenzkranke ist, im Moment zu leben. Ich habe von diesen Menschen schon so viel über mich selbst gelernt. Die Pflegenden und Betreuenden müssen sich immer fragen: Bin offen für das, was kommen kann? Wo sind meine Grenzen?

Letzten Endes ist es für mich persönlich eine Arbeit, die mich fasziniert und die mich sehr bereichert.

Welchen Stellenwert hat Ihre Arbeit in der Protestantischen Kirche in den Niederlanden?

Wir Seelsorgerinnen und Seelsorger und das Pflegepersonal haben die Kirche schon immer aufgefordert, auch für die älteren Menschen unserer Gesellschaft Zeugnis abzulegen. Meiner Kirche ist die Arbeit mit Seniorinnen und Senioren durchaus wichtig. Es gibt seit letztem Jahr einen Austausch über die Möglichkeiten der Entwicklung von Gottesdiensten, die auch für Demenzkranke geeignet sind. Wenn man es bei Lichte betrachtet, gibt es in der Kirche ja eine große Zahl älterer Menschen. Initiativen, sich besser auf diese Altersgruppe einzustellen, waren und sind also unumgänglich. Ein zweites Beispiel dafür, wie die Kirche sich für Seniorinnen und Senioren engagiert, findet sich auf unserer Website: Dort werden Freiwillige gesucht, die während der COVID-19-Pandemie seelsorgerliche Betreuungsaufgaben für die älteren Generationen übernehmen wollen.

Haben Sie Tipps für Menschen, die Demenzkranke in Pflegeheimen während der COVID-19-Pandemie unterstützen wollen?

•            Rufen Sie an.

•            Schicken Sie eine Karte oder Blumen.

•            Schicken Sie ihnen Gebete.

•            Gehen Sie auf Menschen zu, deren demenzkranke Angehörige in Pflege- oder Seniorenheimen sind, und bieten Sie Ihre Hilfe an.

Es gibt viele Möglichkeiten, mit Zeichen oder Symbolen zum Ausdruck zu bringen, dass wir diese Menschen nicht vergessen haben.

 

Stimmen aus der Kirchengemeinschaft:

Der Lutherische Weltbund (LWB) ist eine weltweite Gemeinschaft, deren Mitglieder sich gemeinsam für das Werk und die Liebe Christi in der Welt einsetzen. In dieser Reihe präsentieren wir Kirchenleitende und Mitarbeitende, die über aktuelle Themen sprechen und Ideen entwickeln, wie Frieden und Gerechtigkeit in der Welt geschaffen werden und die Kirchen und die Gemeinschaft in ihrem Glauben und ihrem Engagement wachsen können.

 

LWF/OCS