Europäische Kirchenleitungskonferenz diskutiert über Transformationsprozesse
GENF (LWI) – Die Coronavirus-Pandemie hat Entwicklungen und Veränderungsprozesse beschleunigt, mit denen die Kirchen in Europa in den letzten Jahren konfrontiert sind. Einige Beobachtungen aus den drei europäischen Regionen des Lutherischen Weltbundes (LWB) lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: Online-Gottesdienste und -Angebote werfen theologische Fragen auf, besonders bezüglich der Sakramentsverwaltung. Finanzierungs- und Einnahmequellen der Kirchen und Gemeinden wurden eingeschränkt. Die neuen Bedingungen stellen neue Anforderungen an die seelsorgerliche Begleitung von Menschen.
Am zweiten Tag der Europäischen Kirchenleitungskonferenz berichteten die drei Vizepräsidentinnen und -präsidenten aus ihren Regionen.
Glauben ohne feste Zugehörigkeit
Pröpstin Astrid Kleist, Vizepräsidentin für die Region Mittel- und Westeuropa, griff Entwicklungen der letzten Jahre in Kirche und Gesellschaft ihrer Region auf. Sie benannte Individualisierung als eine zentrale Ursache für die sinkenden Mitgliederzahlen der Kirchen und die allgemeine Zurückhaltung der Menschen, sich „langfristig und verbindlich“ an Institutionen zu binden.
„Wir werden nicht mehr wie selbstverständlich hineingeboren in eine religiöse Tradition, sondern wir bestimmen selbst, ob und in welchem Verhältnis wir dazu gehören wollen. Religionssoziologen sprechen daher auch von einer Patchwork-Religiosität,“ führte Kleist aus.
Aber: „Mit dem Rückgang der Bedeutung der institutionalisierten Religion geht keineswegs ein Bedeutungsverlust der individuellen Religiosität einher“, so Kleist. „Sie ist allerdings weniger verbindlich, weniger traditionsgebunden und weniger sozialisiert, dafür sehr viel pluraler.“
Kirchenleitende müssten sich deshalb selbstkritisch fragen: „Welche Freiräume und Ressourcen braucht es künftig, um als Kirchen relevant für die Menschen zu sein, zu denen wir uns gesendet sehen?“
Online Kirche sein
Für die Region Mittel- und Osteuropa sprach Erzbischof Urmas Viilma über die Auswirkungen des „technischen Sprungs“, den die Pandemie in den Kirchen mit sich gebracht habe.
„Wir konnten beobachten, dass sich zwei parallele Kirchen entwickeln – neben der physischen Kirchen vor Ort entstand eine Online-Kirche“, so Viilma. Dabei gab es deutliche Unterschiede bei den Zielgruppen, die diese Angebote jeweils erreichten. „Wir haben viel positives Feedback von Menschen erhalten, die keine Kirchenmitglieder sind, aber jetzt an unseren Online-Gottesdiensten teilnehmen.“
Zudem hatte dies unmittelbares Feedback für die Anbieter zur Folge, denn die Menschen konnten zwischen verschiedenen Gottesdiensten hin- und herschalten, sowie bestimmte Musikstile oder Formate auswählen, die ihren persönlichen Vorlieben entsprachen.
Weil viele gottesdienstliche Aktivitäten überwiegend online stattfanden, stellten sich auch neue theologische Fragen: Was ist „real“ und was „virtuell“? Welche Rolle hat der Pfarrer oder die Pfarrerin? Wie steht es um die Sakramentsverwaltung? Über diese Themen und Fragen müsste zukünftig intensiv beraten werden, so Viilma.
Eine besonders schwierige Aufgabe sei in den vergangenen sechs Monaten die Seelsorge gewesen. „Es war schwierig, darauf zu achten, dass niemand außen vor bleibt“, berichtete Viilma. Unverzichtbar sei hier das Telefon gewesen. Einige Menschen – insbesondere ältere oder kranke –, die sowieso schon isolierter lebten, hätten darüber hinaus keinen leichten Zugang zum Internet.
Belastungen gemeinsam tragen
Erzbischöfin Antje Jackelén, Vizepräsidentin für die Region Nordische Länder, zitierte aus einer gemeinsamen Erklärung von lutherischen und katholischen Bischöfinnen und Bischöfen, die diese kurz vor dem Ausbruch der Pandemie in den nordischen Ländern veröffentlicht hatten: „Unsere physischen und psychischen Grenzen werden durch die Ausbreitung des Coronavirus und die sich verschärfende Flüchtlingskrise an den Außengrenzen Europas auf die Probe gestellt.“ Beide Entwicklungen erforderten, dass wir „überall in Europa persönlich und gemeinsam“ Verantwortung übernehmen. „Belastungen müssen geteilt und gemeinsam getragen werden – wenn wir hier versagen, verlieren wir unsere Menschlichkeit“, so Jackelén.
Allgemein betrachtet, „konnte die diakonische Arbeit sehr schnell an die neuen Bedingungen angepasst werden“, berichtete Jackelén. „Worauf man sich konzentrieren musste, war klar: Nahrungsmittel, Medizin und die Folgen der Isolation und Einsamkeit.“ Insgesamt habe es deutlich mehr Kontakt zu und Zusammenarbeit mit Behörden und zivilgesellschaftlichen Organisationen gegeben. Dies wurde von diesen Institutionen durchaus begrüßt.
Bei der Seelsorge und Gemeindearbeit sei die Umstellung schwieriger gewesen, habe aber auch zu vielen neuen und kreativen Angeboten geführt. Eine Diskrepanz hätte sich entwickelt zwischen den geografisch genau umrissenen Grenzen der Parochien einer Volkskirche und ortsunabhängigen Angeboten und zentralen Seelsorgetelefonen, so eine Beobachtung während der Pandemie. Derartige Angebote seien „gefragter als je zuvor“ und die Kontaktzahlen zu Menschen die sie nutzen, steige erheblich.
„Nach der Pandemie werden wir vor großen wirtschaftlichen Herausforderungen stehen – als Kirche und als Gesellschaft“, betonte Jackelén. „Die Digitalisierung als Mittel, um Kosten zu senken – für die Verwaltung oder die grundlegende Arbeit in einer Gemeinde vor Ort – könnte eine Option sein, über die wir als Weg in die Zukunft nachdenken müssen.“ Auch für das Sammeln von Geldern für die internationale Arbeit könnten digitale Tools hilfreich sein.
Die Europäische Kirchenleitungskonferenz des Lutherischen Weltbundes (LWB) findet am 22. und 23. September in einem Online-Format statt. Teilnehmende aus den drei LWB-Regionen in Europa – Mittel- und Westeuropa, Mittel- und Osteuropa und Nordische Länder – werden dort über das Thema der Konferenz, „Kirche sein in Zeiten des Wandels“, nachdenken und sich austauschen.