Transformative Auslegung christlicher und muslimischer Schriften
Oslo, Norwegen/Genf, 18. März 2016 (LWI) –- Eine Reihe von Konsultationen mit Beteiligung christlicher und muslimischer Gelehrter, veranstaltet vom Lutherischen Weltbund (LWB) in Partnerschaft mit akademischen Einrichtungen, entwickelt sich zu einem Netzwerk von Dozentinnen, Dozenten und Gläubigen, die vertiefte Gespräche über die Auslegung heiliger Schriften in unterschiedlichen Kontexten weltweit suchen.
„Es war ermutigend zu erleben, dass der LWB zusammen mit akademischen Einrichtungen ein einzigartiges Forum für den Diskurs zwischen Menschen christlichen und muslimischen Glaubens bereitgestellt hat. Dort konnten wir gemeinsam die heiligen Schriften als wichtigen Schatz für unsere Glaubensgemeinschaften studieren und auch miteinander über schwierige ethische Fragen sprechen“, stellte Pfarrerin Dr. Simone Sinn fest, LWB-Studienreferentin für öffentliche Theologie und interreligiöse Beziehungen.
Dr. Sinn bezog sich damit auf die christlich-muslimische Konsultation mit dem Thema „Transformative Auslegung heiliger Schriften“, die vom 10. bis 13. März an der theologischen Fakultät der Universität Oslo, Norwegen auf Initiative des LWB stattgefunden hat. Es war die zweite Konferenz in einer Reihe von Konsultationen, die 2014 begonnen hat.
Die Eröffnungsreferate von Prof. Mouhanad Khorchide und Pfr. Dr. Kenneth Mtata, LWB-Studienreferent für Lutherische Theologie und Praxis, vermittelten einen Einblick in die aktuelle Koran- und Bibelforschung. In beiden Vorträgen zeigte sich deutlich, dass sich die Bedeutung eines Textes erst im Akt des Lesens erschliesst; das Verständnis der Besonderheiten der Kommunikation der ersten RezipientInnen wird deshalb zu einem wichtigen Teil des Studiums der Schriften.
„Es war ermutigend zu erleben, dass der LWB zusammen mit akademischen Einrichtungen ein einzigartiges Forum für Gespräche zwischen Menschen christlichen und muslimischen Glaubens bereitgestellt hat. Dort konnten wir gemeinsam die heiligen Schriften als wichtigen Schatz für unsere Glaubensgemeinschaften studieren und auch miteinander über schwierige ethische Fragen sprechen.“ Pfarrerin Dr. Simone Sinn
Professor Khorchide, Direktor des Zentrums für Islamische Theologie der Universität Münster, Deutschland, hielt einen Vortrag über das Thema „Die Verfasser des Korans leben noch – der Koran als Akt der Kommunikation“, und wies darauf hin, dass die heilige Schrift des Islam ihre Botschaft in Interaktion mit den Lesenden entwickelt und dass die Worte „im Leben jedes einzelnen Menschen jedes Mal, wenn sie gelesen werden, eine andere Bedeutung bekommen.“
Seniorprofessor Stefan Schreiner von der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Tübingen untersuchte die Beziehung der beiden heiligen Bücher zueinander und erklärte, dass die Kommentatoren des Korans das Bibelstudium von Anfang als Teil ihrer Koranexegese betrachtet und sich in ihren einschlägigen Arbeiten vielfach auf biblisches Material bezogen hätten, woraus sich eine gemeinsame Geschichte ergeben habe.
Professor Oddbjørn Leirvik von der theologischen Fakultät der Universität Oslo untersuchte „problematische Textstellen“ in der Bibel und im Koran und benannte hermeneutische Zugänge für Gläubige und Theologinnen und Theologen zur Betrachtung solcher Texte. Er analysierte Diskussionen über die christliche Vorstellung der Hölle und untersuchte den in der muslimischen Glaubensgemeinschaft öffentlich geführten Diskurs über Religion und Gewalt.
Patriarchat und Gewalt gegen Frauen
Assistenzprofessorin Anne Hege Grung aus Oslo präsentierte die Ergebnisse einer Fallstudie und beschrieb darin, wie christliche und muslimische Frauen heute die Schriftstellen lesen, die das Patriarchat dulden und dazu verwendet werden, Gewalt gegen Frauen zu rechtfertigen. Frauen, so sagte sie, hätten auf das gefährliche Potenzial dieser Texte hingewiesen und suchten nach Strategien für eine konstruktive Transformation während des Leseprozesses.
Professorin Sarojini Nadar und Dr. Fatima Seedat von der Universität KwaZulu-Natal in Südafrika berichteten ausserdem über ihre Erfahrungen aus gemeinsamen Vorlesungen über Hermeneutik in einem Seminar, an dem Studierende mit christlichem und muslimischem Hintergrund teilgenommen haben. Ihre Aufgabe als Lehrkräfte sei es gewesen, so berichteten sie, „auf das Spannungsfeld zwischen den feministischen Lesarten der heiligen Schriften hinzuweisen und nicht dem Druck nachzugeben, diese Spannungen kleinzureden, zu trivialisieren oder zu verschärfen.“
Miteinander leben
Die Tagung in Oslo bot auch die Gelegenheit, etwas über die täglichen Herausforderungen zu lernen, die das Zusammenleben von Menschen verschiedener Religionszugehörigkeit mit sich bringt. Professor Samuel Frouisou, akademischer Dekan der Protestantischen Universität von Yaoundé, Kamerun, beschrieb, wie die Förderung konstruktiver Beziehungen zwischen den Religionen einen Beitrag zur Eindämmung der Gefahr gewalttätiger Übergriffe militanter Gruppen leistet. Er berichtete, wie christliche Gläubige Moscheen während der Freitagsgebete schützten, während muslimische Gläubige darüber wachten, dass die Sonntagsgottesdienste in den Kirchen stattfinden konnten. Auf diese Weise konnte sich jede Glaubensgemeinschaft ohne Angst zum Gebet versammeln.
Zu der Konsultation kamen 32 Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus 11 Ländern, zu den öffentlichen Gesprächsrunden zusätzlich Studierende und Mitarbeitende der Universität Oslo. In den letzten beiden Jahren hat eine muslimisch-christliche Gruppe von Gelehrten ebenfalls die Rolle der Religion im öffentlichen Raum untersucht.
Die theologische Fakultät der Universität Oslo und das Zentrum für Islamische Theologie in Münster sind an der Fortsetzung der Zusammenarbeit mit dem LWB interessiert, und laut Aussage von Dr. Sinn gibt es bereits konkrete Pläne für eine nächste gemeinsame Konsultation.