Interview mit Marcia Blasi, Professorin an der Faculdades EST, Brasilien
SAO LEOPOLDO, Brasilien/GENF (LWI) – An vielen Hochschulen weltweit hat die Corona-Pandemie nicht nur zu einer völlig unerwarteten Verlagerung des persönlichen Kontakts zwischen Lehrenden und Studierenden in den virtuellen Raum geführt, sondern hat im Lehrbetrieb auch neue Diskurse aufkommen lassen.
Marcia Blasi ist Professorin für feministische Theologie und Koordinatorin für die Studienprogramme Theologie und „Gender und Religion“ an der Faculdades EST, dem theologischen Institut der Evangelische Kirche Lutherischen Bekenntnisses in Brasilien (IECLB). Im Interview spricht sie über den Umgang mit „Angst und Dankbarkeit“, darüber wie sehr die Menschen es „vermissen, keine Angst zu haben“, und über ihren entschlossenen Einsatz für Gendergerechtigkeit während Lehrveranstaltungen nur online stattfinden können.
Inwiefern hat die Pandemie dieses neuartigen Coronavirus in Brasilien Ihr Arbeitsumfeld verändert?
Die Corona-Pandemie hat alles verändert. Als das Bildungsministerium Anfang März Lockdown-Maßnahmen verhängt hat, war gerade das neue Semester gestartet. Von einem Tag auf den anderen mussten alle Lehrveranstaltungen auf Online-Plattformen verlegt und unsere Büros geschlossen werden – der Campus war wie ausgestorben. Normalerweise halten sich hier rund 60 Theologie-Studierende und mehr als 15 Lehrende auf; dazu kommen Personenkreise, die mit anderen Studienrichtungen befasst sind.
Die Lehrenden und Studierenden mussten von jetzt auf gleich herausfinden, wie sie am besten von zu Hause mit Telefon und Computer würden arbeiten können. Es stellte sich für uns als Lehrende schnell heraus, dass eine unserer wichtigsten Aufgaben sein würde, den Umgang mit Ängsten und Sorgen zu vermitteln. Auch wenn einige Lehrveranstaltungen unserer Hochschule regulär in Form von Fernunterricht stattfinden, war dies eine neue Erfahrung.
Das Studienprogramm „Gender und Religion“ zum Beispiel arbeitet fächerübergreifend, um in den verschiedenen Feldern von Lehre und Forschung ein Bewusstsein für Gendergerechtigkeit zu schaffen. Wir waren gerade in neue Büros umgezogen und hatten neue Kolleginnen und Kollegen im Team begrüßt. Wir hatten Workshops und Seminare geplant, die natürlich nicht wie geplant stattfinden konnten; wir mussten uns quasi neu erfinden. Im Laufe der Zeit haben wir neue Abläufe und Arbeitsweisen entwickelt, neue Möglichkeiten, uns umeinander zu kümmern und uns als Gemeinschaft zu fühlen, obwohl wir physisch nicht an einem Ort waren.
Können Sie etwas genauer ausführen, was Sie meinen, wenn Sie vom „Umgang mit Ängsten und Sorgen“ sprechen?
Es herrscht viel Angst und die Menschen machen sich Sorgen, wie eine weitere Ausbreitung der Krankheit verhindert werden kann, wie sie sich selbst und andere schützen können und wie wohl die Zukunft aussehen wird. Als Gemeinschaft Gottes engagieren wir uns aber für eine Diakonie der Solidarität. Wir sind dankbar für die Gelegenheiten uns um uns selbst und um andere kümmern zu können. Wir sind dankbar, dass wir einen Internetanschluss, Essen auf dem Tisch und ein Zuhause haben. Dankbar, dass Studierende und Mitarbeitende, die sich angesteckt hatten, wieder gesund geworden sind. Aber wir vermissen den persönlichen Kontakt mit anderen Menschen, die übliche Umarmung zur Begrüßung, die Seminare mit Studierenden und Gemeinden. Und vor allem vermissen es, keine Angst zu haben.
Im Juli haben wir eine Umfrage unter unseren Theologiestudierenden und -lehrenden durchgeführt, um zu verstehen, wie Menschen mit der Pandemie umgehen. Die Antworten waren alle sehr ähnlich: ein Mix aus Angst und Dankbarkeit. Und es ist eine tägliche Herausforderung, dieser Spannung mit Sanftmut und Achtsamkeit zu begegnen.
Wie wirkt sich das alles auf Ihre Lehrtätigkeit aus?
Mitte Oktober wurden nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation in Brasilien mehr als 5,1 Millionen Coronafälle gemeldet, und fast 151.000 Menschen sind daran gestorben. In einigen Bundesstaaten wie Rio Grande do Sul, wo ich lebe, sind mehr als 5.200 Menschen gestorben. Obwohl das öffentliche Gesundheitssystem gut vorbereitet war und ausreichend Medikamente und persönliche Schutzausrüstungen zur Verfügung standen, wurden die Mitarbeitenden im Gesundheitssystem an ihre körperlichen und emotionalen Grenzen gebracht.
Lehre ist immer kontextabhängig. Während einer Pandemie werden Ängste und die bestehenden gesellschaftlichen Ungerechtigkeiten sichtbarer – sowohl im Sinn einer Herausforderung als auch im Sinn einer Chance. Eine Herausforderung ist es für uns, weil sich das Format unserer Lehrveranstaltungen und die Inhalte verändert haben. Eine Chance ist es, weil es uns Zeit gibt, einander zuzuhören, gemeinsam nachzudenken, einander zu unterstützen, in dem Gefühl von Gemeinschaft zu leben und gemeinsam Wissen zu schaffen und Erkenntnisse zu erlangen.
In einem kürzlich gehaltenen LWB-Webinar über Bildung und lutherische Identität sagten sie, dass Gewalt an Frauen, Kindern und älteren Menschen während der Pandemie zugenommen hätten. Können das etwas genauer ausführen?
Als erstes ist es wichtig, festzuhalten, dass es häusliche Gewalt nicht erst seit der Pandemie gibt. Sie wird auch nicht durch den Druck oder den Stress hervorgebracht, den die Corona-Pandemie verursacht. Die brasilianische Regierung hat Informationen veröffentlicht, dass allein im April – also nur einen Monat nach dem Beginn der häuslichen Quarantäne und sozialen Isolation – 44 Prozent mehr Fälle von Gewalt an Frauen angezeigt wurden als im gleichen Monat ein Jahr zuvor. Auch die Zahl von Frauenmorden ist während der Pandemie um 22 Prozent gestiegen.
Durch die behördlich angeordnete häusliche Quarantäne waren die Menschen 24 Stunden am Tag zusammen in ihren Wohnungen eingesperrt. Sehr viele Menschen, die im formellen und informellen Sektor gearbeitet haben, haben ihre Arbeitsstellen und gesicherte Existenzgrundlagen verloren. In einem Umfeld, in dem Gewalt schon vorher nicht unbekannt war, führt der wachsende Stress und diese wirtschaftliche Unsicherheit zu größerer Aggressivität in der Familie, bei der insbesondere Frauen, Kinder und ältere Menschen die Leidtragenden sind. Alte Menschen sind besonders gefährdet, weil die Maßnahmen der sozialen Isolation es schwerer machen, sie zu unterstützen.
Häusliche Gewalt ist in Brasilien Teil der patriarchalen Kultur und des Machotums, die Frauen und Mädchen ihren Wert absprechen. Bestimmte Auslegungen und Lehren zu christlichen Schriften über Gehorsam und die Unterordnung der Frau legitimieren eine solche Kultur, genau wie der Zuwachs bei fundamentalistischen religiösen Gruppierungen, politische Einflussnahme und Gesetze.
Haben die Menschen neue Möglichkeiten und Wege gefunden, sich in der Pandemie gegenseitig zu unterstützen?
Eine Reihe von Kampagnen in den sozialen Medien haben die Menschen auf kreative Art und Weise für das Problem der häuslichen Gewalt sensibilisiert. In Rio Grande do Sol hat das brasilianische Komitee der „HeForShe“-Kampagne die Aktion „Lila Maske“ organisiert. Frauen können dank dieser Kampagne die Angestellten in Apotheken, die dafür mit den Behörden zusammenarbeiten, mit der Bitte um eine lila Maske als Codewort auffordern, ihren Namen und Adresse zu notieren und die Polizei zu verständigen.
Die IELCB, hat in Kooperation mit dem Studienprogramm „Gender und Religion“ an der Faculdades EST die Kampagne „Für ein gewaltfreies Zuhause“ gestartet. Durch Beiträge in den sozialen Medien, Radiospots, Andachten und Hilfetelefone versucht die Kirche klarzustellen, dass häusliche Gewalt eine Sünde ist, bietet den Opfern Hilfe an und fordert, dass die Täter zur Verantwortung gezogen werden. Bis Jahresende bieten wir im Rahmen des Studienprogramms „Gender und Religion“ kostenlose Online-Seminare zum Thema Gewalt gegen Frauen und Beratung und Seelsorge für die Opfer und Überlebenden an.
Wie kann Theologie das Verständnis von Gendergerechtigkeit mitgestalten?
Laut dem Grundsatzpapier zum Thema Gendergerechtigkeit der Faculdades EST (das 2015 verabschiedet wurde), ist Gendergerechtigkeit ein theologischer, pädagogischer und ethischer Grundsatz. Deshalb gehören Fragen aus dem Bereich Gendergerechtigkeit für uns einfach zu unserem Verständnis von Theologie und unserer Lehre dazu. Dabei ist es unter anderem wichtig, welche Autorinnen und Autoren wir lesen, wie wir einander verstehen und wahrnehmen, ob wir inklusive Sprache benutzen oder nicht und ob wir uns der Machtverhältnisse zwischen Männern und Frauen bewusst sind. All das ist unter Umständen eine große Herausforderung. Aber es kann auch ein Zeichen der Hoffnung sein und ein Zeichen unseres Bekenntnisses zum Leben und dem Zeugnis in der Gesellschaft.
Was bedeutet es für Sie, der weltweiten LWB-Gemeinschaft anzugehören?
Zur globalen LWB-Gemeinschaft zu gehören heißt, die Gnade Gottes zu erfahren, zu wissen, dass wir in der Welt nicht allein sind, sondern dass der Geist Gottes uns als Schwestern und Brüder bewegt.
Die Zugehörigkeit zur LWB-Gemeinschaft hat mich persönlich in meinem Leben und meiner Berufung geprägt. Als junge Theologiestudentin erhielten mein Mann und ich ein Stipendium für einen einjährigen Studienaufenthalt in Pietermaritzburg, Südafrika. Die Erfahrung lehrte uns, dass es innerhalb der lutherischen Gemeinschaft verschiedene Kulturen, Ethnien, Sprachen und Formen der Feier und des Gottesdienstes gibt. Durch die Taufe sind wir dennoch Teil derselben Familie und leben die vielgestaltige Gnade Gottes.
Teil der Gemeinschaft zu sein, hat mir auch die Kraft und den Mut gegeben, mich für Gendergerechtigkeit als Teil meines beruflichen und theologischen Engagements einzusetzen.
Stimmen aus der Kirchengemeinschaft:
Der Lutherische Weltbund (LWB) ist eine weltweite Gemeinschaft, deren Mitglieder sich gemeinsam für das Werk und die Liebe Christi in der Welt einsetzen. In dieser Reihe präsentieren wir Kirchenleitende und Mitarbeitende, die über aktuelle Themen sprechen und Ideen entwickeln, wie Frieden und Gerechtigkeit in der Welt geschaffen werden und die Kirchen und die Gemeinschaft in ihrem Glauben und ihrem Engagement wachsen können.
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