Ökumenewissenschaftlerin Dr. Minna Hietamäki über kulturelle Entwicklungen und religiöse Tendenzen in ihrem Heimatland
(LWI) – Für die finnische Theologin Dr. Minna Hietamäki ist das Streben nach Versöhnung und Einheit aller christlichen Gläubigen ein zentraler Aspekt der Identität der Kirche und ihres Zeugnisses. In einem Land, das sich weiterhin maßgeblich mit dem lutherischen Glauben und der lutherischen Kultur identifiziert, fragt sie: „Wie können wir eine glaubwürdige Stimme in der Gesellschaft sein, wenn wir weiterhin gespalten sind?“
Als junge Theologiestudentin in den 1990er und 2000er Jahren spezialisierte sich Hietamäki auf die Geschichte der ökumenischen Beziehungen im 20. Jahrhundert und schrieb ihre Doktorarbeit über die bilateralen Dialoge zwischen lutherischen Kirchen, anglikanischer und römisch-katholischer Kirche. Schon kurze Zeit später wurde sie Mitglied in der Kommission für Glauben und Kirchenverfassung des Ökumenischen Rates der Kirchen und nahm danach an dem lutherisch-methodistischen Dialog in Finnland teil, der zu einem wichtigen Übereinkommen führte.
Viele Jahre lehrte Hietamäki Theologie an der Universität Helsinki und ist heute theologische Beraterin von Erzbischof Tapio Luoma, dem Oberhaupt der Evangelisch-Lutherischen Kirche Finnlands. Als ehemaliges Mitglied im Rat des Lutherischen Weltbundes (LWB) und derzeitige Beraterin des Ausschusses für Ökumenische Beziehungen sind die breiteren internationalen und ökumenischen Dimensionen in ihren Augen von zentraler Bedeutung für die Zukunft der Kirche in der finnischen Gesellschaft.
Erzählen Sie mir zunächst etwas über Ihren familiären Hintergrund?
Meine Familie ist nicht regelmäßig in die Kirche gegangen, aber wir waren eine typische finnische Familie mit christlich-kultureller Prägung – das heißt, wir haben zum Beispiel immer Weihnachten und Ostern gefeiert. Meine Großmutter kam aus frommeren Verhältnissen und hatte daher eine gewisse Religiosität, aber eher im Privaten; auch sie ist nicht regelmäßig in die Kirche gegangen. In der Schule war alles ebenfalls sehr lutherisch geprägt: Wir sangen zum Start in den Tag jeden Morgen einen Psalm und vor den Mahlzeiten wurde gebetet.
Man darf nicht vergessen, dass Finnland vor seiner Unabhängigkeit 1917 ein autonomer Teil des orthodoxen Russlands war, daher beruht die Identität dieser geografischen Region auf der Sprache und dem Glauben der lutherischen Kirche. Es ist für uns nicht immer einfach, den religiösen Aspekt unseres Lebens klar abzugrenzen, weil das Lutherische einfach Teil unserer Kultur ist.
Wann haben Sie begonnen, sich für die Ökumene zu interessieren?
Als Teenagerin, als ich begann, mich aktiv in der Kirche zu engagieren, denn meine Heimatgemeinde in Helsinki, wo ich auch heute noch lebe, war stark ökumenisch orientiert. Ich begann, Konfirmationsunterricht zu geben, und unser Jugendpastor fuhr mit Jugendgruppen gerne nach Taizé. Als ich mit der Schule fertig war, fuhr ich daher jedes Jahr über Ostern dorthin.
Ich bin dort auch hingefahren, um darüber nachzudenken, was ich im Leben machen wollte; und habe mich dann für Theologie entschieden. In Taizé kann man auf sehr eindrückliche Weise erleben, dass die Kirche mit all ihren verschiedenen Traditionen und Ansichten, den vielfältigen Kulturen und Sprachen gegenwärtig ist. Das Finnland der 1990er Jahre war eine sehr monokulturelle Gesellschaft, aber in Taizé wurde ich daran erinnert, dass wir nur ein kleiner Teil des großen Gesamtbildes sind, und mir wurde schnell klar, dass wir nicht zersplittert sein dürfen.
Inwiefern hat sich die finnische Gesellschaft seither verändert?
An der Oberfläche hat sich nicht viel verändert. Statistiken zufolge sind fast 70 Prozent der Menschen in Finnland immer noch Mitglied in der lutherischen Kirche. Aber in den letzten 30 Jahren hat die Zahl muslimischer Gläubiger bei uns deutlich zugenommen. Historisch gesehen war die größte Minderheit in Finnland immer die finnische orthodoxe Kirche, aber die Pfingstkirchen wachsen und viele lutherische Gläubige bezeichnen sich selbst als pfingstkirchlich, daher ist es schwer, genaue Aussagen zu machen.
Es kommen viele Flüchtlinge aus der Ukraine mit orthodoxer Prägung in unser Land, aber kulturell gesehen ist unser Land immer noch sehr lutherisch. Wir beobachten einen Rückgang bei den Taufen von Kindern, nicht weil die Eltern etwas gegen die Kirche hätten, sondern weil sie wollen, dass ihre Kinder selbst entscheiden.
Also ist die finnische Gesellschaft säkularer geworden?
Kinder müssen in der Schule je nach religiöser Zugehörigkeit immer noch Religion oder Ethik als Fach wählen. Die Zahl der Taufen geht zurück, aber der Konfirmationsunterricht ist immer noch ein wichtiges und beliebtes Element der Jugendkultur in unserem Land, auch für jene Jugendliche, die nicht getauft sind. Ich finde, es spricht für die Popularität und kulturelle Bedeutung unseres Konfirmationsunterrichts, dass der Humanistische Verband ein Sommerferienlager in ähnlichem Format für Kinder geschaffen hat, die keiner Glaubensgemeinschaft angehören.
Gleichzeitig beobachten wir, dass die spirituelle Suche wieder an Bedeutung gewinnt und das die Menschen in die religiösen Gemeinschaften lockt. Aber ich würde sagen, die größte Veränderung ist, dass Religion eine bewusste Lebensentscheidung geworden ist. Viele Menschen entscheiden sich aber weiterhin für Religion – jüngste Erhebungen zeigen, dass religiöse Fragen insbesondere für junge Männer wichtig sind, was möglicherweise mit dem Vormarsch konservativer Werte zu tun hat.
Sie haben einen Großteil Ihrer beruflichen Laufbahn Theologie gelehrt –wie einfach ist es, aufstrebende junge Ökumenikerinnen und Ökumeniker zu finden?
Wenn man sich anschaut, worauf sich Theologiestudierende spezialisieren, zeigt sich, dass sich die Männer in der Regel für systematische Theologie und Frauen für praktische Theologie entscheiden, obwohl sich Studierende derzeit generell eher für praktischere Anwendungsgebiete entscheiden. Das beunruhigt mich als systematische Theologin natürlich etwas. Die Zahl der Bewerbungen für ein Theologiestudium ist aber nach wie vor hoch und Ökumene ist für junge Menschen weiterhin wichtig, auch wenn ich persönlich den Eindruck habe, dass das Interesse speziell an dogmatischen Dialogen nachlässt, was möglicherweise mit der Verbesserung der Beziehungen und der Tatsache zu tun hat, dass formelle Grenzen irrelevant scheinen. Es könnte also sozusagen eine Auswirkung des Erfolgs der ökumenischen Bewegung sein.
Sie waren an den Planungen der anstehenden sechsten Phase des Dialogs mit der Römisch-katholischen Kirche beteiligt – was können Sie uns zu diesem Thema sagen?
Ich denke, wir stehen am Anfang einer ähnlichen Phase wie Anfang der 1990er Jahre, als sich der LWB bewusst dafür entschied, die Früchte der regionalen und nationalen Dialoge zu ernten. Das Ergebnis damals war die Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre, die heute als eines der wichtigsten ökumenischen Übereinkommen gilt, dem sich inzwischen weitere Glaubenstraditionen angeschlossen haben.
Vielleicht stehen wir am Anfang einer Zeit, in der ähnliche Fragen zum Wesen der Kirche gestellt werden, die insbesondere für die katholische Kirche wichtig sind. Für uns lutherische Gläubige ist die Rechtfertigung das zentrale Element des Wesens der Kirche, aber wir würden gerne umfassendere Gespräche auch über den Dienst und die Sakramente führen. Natürlich ist die Dauer der Dialogphasen nicht vorgeschrieben, aber ich glaube, wir haben in den vergangenen 30 Jahren viel gute theologische Arbeit geleistet und wenn wir uns darauf stützen und einander vertrauen, dann könnte das möglich sein.
Neben Ihrem ökumenischen Engagement arbeiten Sie heute als Beraterin für den Erzbischof – was beinhaltet diese Arbeit?
Der Erzbischof hat drei theologische Beratende – neben mir eine Person für Öffentlichkeitsarbeit und eine für internationale ökumenische Angelegenheiten. In meiner Arbeit geht es schwerpunktmäßig um Advocacyarbeit und die Beziehungen zur breiteren Gesellschaft, was bedeutet, dass ich gefragt bin, wenn er beispielsweise eine Erklärung zu bestimmten Themen im Zusammenhang mit der Politik unserer Regierung abgeben will.
Ich bin auch bei den Ethik-Seminaren involviert, die unsere Kirche für Menschen mit Führungsverantwortung organisiert. Jedes Seminar ist für etwa 30 Personen konzipiert, die an acht Tagen im Laufe eines Jahres zu uns kommen; ein ähnliches Format haben wir auch für junge Erwachsene unter 35. Darüber hinaus organisieren wir solche Tagungen auch in Belgien für Finninnen und Finnen, die bei der Europäischen Union und in der Region Europa insgesamt arbeiten. Da bin ich dann auch involviert und ebenso bei allem anderen, wo der Erzbischof Unterstützung bei theologischen Fragen braucht.
Was bedeutet es für Sie persönlich, Teil der weltweiten Gemeinschaft lutherischer Kirchen zu sein?
Das ist sehr wichtig für mich, denn meine aktive Teilhabe am Gemeindeleben begann wie gesagt mit genau dieser Art von internationalem Engagement. Wenn man Mitglied einer Ortsgemeinde ist, beschäftigt man sich vor allem mit Themen, die vor Ort von Bedeutung sind. Auf regionaler und nationaler Ebene können die lutherischen Kirchen eine ausgeprägt nationale Identität haben, die für mich persönlich nicht besonders attraktiv ist, weil es sich ein bisschen anfühlt, als stünde man in einem stehenden Gewässer.
Für mich ist es interessant, meine eigene Kirche aus dem Blickwinkel anderer Kirchen und Menschen aus ganz anderen Lebenskontexten zu betrachten. Es beflügelt mich und macht mir große Hoffnung, dass auch diese etablierten Kirchen Inspirationsquelle für andere Menschen sein können und im Leben anderer Menschen eine Bedeutung haben.