Gleichberechtigter Zugang, Sicherheit, Teilhabe

03 März 2016
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Busi Suneel Bhanu (2. v. li.) und die LWB-Studiengruppe zum Thema Kirche und öffentlicher Raum bei ihrer jüngsten Tagung. Foto: LWB

Busi Suneel Bhanu (2. v. li.) und die LWB-Studiengruppe zum Thema Kirche und öffentlicher Raum bei ihrer jüngsten Tagung. Foto: LWB

Busi Suneel Bhanu zur Rolle der Kirche im öffentlichen Raum

Interview mit Pfr. Dr. Busi Suneel Bhanu: Die Rolle der Kirchen im öffentlichen Raum

(LWI) – Die Kirche ist ein öffentlicher Raum, in den Menschen mit vielfältigen Haltungen und Orientierungen ihre Ideen und Ressourcen zugunsten des Allgemeinwohls einbringen können, so die Sicht von Pfr. Dr. Busi Suneel Bhanu, einem Teilnehmer der internationalen Gespräche zum Thema Religion im öffentlichen Raum, die im Februar in Sigtuna (Schweden) stattfanden. Zu den Ergebnissen der jüngsten Tagung der Studiengruppe zum Thema lutherische Präsenz im öffentlichen Raum, die der Lutherische Weltbund (LWB) eingerichtet hat, gehört die Erkenntnis, dass drei Aspekte gewährleistet sein müssen, damit alle Mitglieder einer Gesellschaft sich in den öffentlichen Raum einbringen können: Gleichberechtigter Zugang, Sicherheit und sinnhafte Teilhabe.

Bhanu spricht im folgenden Interview über die Diskriminierung aufgrund der Kastenzugehörigkeit, die jüngst gewalttätige Proteste von Angehörigen der bäuerlichen Kaste im nordindischen Bundesstaat Haryana zur Folge hatten.

Welche Faktoren tragen dazu bei, dass in Indien kein gleichberechtigter Zugang zum öffentlichen Raum besteht?

Die indische Bevölkerung von 1,3 Milliarden Menschen lebt in einer pluralistischen Gesellschaft mit verschiedenen Kulturen, Religionen und sozialen Schichten. Im Namen der „rituellen Reinheit und Unreinheit“, wie dies vielfach beschrieben wird, werden über 210 Millionen Menschen als unberührbar bzw. als Dalits eingeordnet – das sind diejenigen, die im Kastensystem ganz, ganz unten stehen. Fehlende Sensibilität für Gendergerechtigkeit, das zunehmende Phänomen religiöser Intoleranz und wachsende Gleichgültigkeit gegenüber den Hoffnungen und Träumen der Armen und anderer schwacher Gruppen gehören zu den Faktoren, die einen gleichberechtigten Zugang zum öffentlichen Raum verhindern.

„Die indische Kirche stellt diese Situation vor eine Herausforderung und sie ist ein Weckruf, ein das Leben bejahendes Evangelium zu verkündigen, das Hoffnung anbietet.“ – Pfr. Dr. Busi Suneel Bhanu

Welche Stimmen und welche Probleme müssen mehr Beachtung finden und warum?

Im indischen Kontext gibt es drei hervorstechende Probleme: Die Rechte der Dalits, die Würde der Frauen und die menschliche Sexualität.

Dalits: Die Diskriminierung aufgrund der Kastenzugehörigkeit ist in Indien zwar gesetzlich verboten, aber es gibt wesentliche Lücken bei der Umsetzung dieser Gesetze. Die soziale Einordung der Dalits als unberührbar hat zur Folge, dass ihnen in der Regel die schmutzigsten, niedrigsten und gefährlichsten Arbeiten zugewiesen werden und viele von ihnen Zwangsarbeit leisten müssen. Die meisten Dalits haben nur begrenzten Zugang zu den verfügbaren Ressourcen und leben in bitterer Armut. Die Mehrheit der indischen Bevölkerung – 80 Prozent – gehört dem Hinduismus an, die meisten Christinnen und Christen sind Dalits.

Im Februar waren Todesopfer zu beklagen und es wurde öffentliches Eigentum zerstört, weil Angehörige einer Unterkaste von privaten Landbesitzern im nordindischen Staat Haryana ihren rechtmässigen Zugang zur und die rechtmässige Teilhabe an der Wirtschaft des Landes einforderten. Ihre Existenz ist ernsthaft bedroht, weil aufgrund des wiederholt ausbleibenden Monsunregens die landwirtschaftlichen Erträge schrumpfen. In der Privatwirtschaft liegt der Tageslohn einer Person zwischen 249 und 300 Rupien (zwischen USD 3,83 und 4,61). Wer im öffentlichen Sektor arbeitet, hat hingegen Anspruch auf täglich 670 bis 945 Rupien (USD 10,30 bis 14,53). Ausserdem hat eine von der Regierung ernannte Kommission einen monatlichen Mindestlohn zwischen 7.000 und 18.000 Rupien (USD 107,69 bis 276,92) empfohlen. Bei den Unruhen in Haryana ging es also nicht nur um die Ungleichheit im Kastensystem, sondern auch um die Ungerechtigkeit der indischen Wirtschaftspolitik.

Würde der Frauen: Die in Indien geltenden traditionellen, männlich-chauvinistischen Ideale, wie eine Frau zu sein hat – sie führt gehorsam den Haushalt, unterwirft sich ihrem Ehemann und gebiert ihm Kinder – untergraben Freiheit, Wahlmöglichkeiten, Hoffnungen und Würde der Frauen. Viele erinnern sich bis heute an die 22-Jährige in Delhi, die im Dezember 2012 Opfer einer Gruppenvergewaltigung durch sechs Männer wurde und später an ihren Verletzungen starb. Die öffentlichen Proteste aus Anlass dieses Geschehens und der weit verbreiteten Gewalt gegen Frauen haben 2013 eine Änderung des Strafrechts gebracht, das jetzt bei Vergewaltigungen strenge Strafen vorsieht. Die Kirchen sind aufgerufen, sich in Wort und Tat verstärkt für die Würde der Frauen – 51 Prozent unserer Bevölkerung – einzusetzen.

Menschliche Sexualität: In einer überwiegend konservativen Gesellschaft gilt Homosexualität als Tabu und wird kriminalisiert, obwohl es Gruppen in der Gesellschaft gibt, die sich für eine Entkriminalisierung aussprechen. In einem historischen Urteilsspruch vom April 2014 wies der oberste Gerichtshof die Regierung an, Transidentität zum „dritten Geschlecht“ zu erklären und Angehörige in die Quote für sonstige rückständige Kasten aufzunehmen. Das Gericht bestätigte dadurch, dass es sie als Teil der Allgemeinheit definierte, ihre Rechtsansprüche, einschliesslich Ehe, Adoption, Scheidung, Rechtsnachfolge und Erbberechtigung.

Wie können die Kirchen dazu beitragen, die Qualität des öffentlichen Diskurses zu verbessern?

Die Kirche ist ein öffentlicher Raum, in den Menschen mit vielfältigen Haltungen und Orientierungen ihre Ideen und Ressourcen zugunsten des Allgemeinwohls einbringen können. Die Kirche, als Gemeinschaft der Glaubenden und als Leib Christi, sollte als offensive Akteurin Gottes Mission hier und jetzt verwirklichen.

Welche Relevanz hat dieser LWB-Studienprozess für die Arbeit der Kirchen im heutigen Indien?

Ich empfinde grosse Wertschätzung für die Arbeit und das Zeugnis des LWB sowie seine vielfältigen Studienprozesse, die zunehmend als Katalysatoren für eine Erneuerung des Lebens unserer jeweiligen Gesellschaft wirken. Die sinnhafte Teilhabe schwacher Teile einer Gesellschaft wird das Leben dieser Gesellschaft bereichern. Die indische Kirche stellt diese Situation vor eine Herausforderung und sie ist ein Weckruf, ein das Leben bejahendes Evangelium zu verkündigen, das Hoffnung anbietet.
 

Pfr. Dr. Busi Suneel Bhanu ist Berater des LWB-Rates und emeritierter Bischof der indischen Evangelisch-Lutherischen Kirche Andhra. Derzeit lehrt er Religionswissenschaft, interreligiöse Beziehungen und Dalit-Theologie am Gurukul Lutheran Theological College and Research Institute in Chennai, wo er zudem als Dekan der Abteilung für Forschung und Promotionsstudien wirkt.

 

LWF/OCS