Kirchen diskutieren über Gerechtigkeit und Frieden in Kriegszeiten

Eine dreitägige Konsultation in Wien hat den Kirchen in Europa einen Raum geboten, um über theologische und praktische Antworten auf Kriege und Konflikte nachzudenken.

06 Dez. 2024
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Im vom Krieg zerrütteten Europa denken die Mitgliedskirchen des LWB über Frieden, Gerechtigkeit und Versöhnung nach. Der Eröffnungsgottesdienst wird von Delegierten lutherischer Kirchen aus ganz Europa unter dem Thema „Churches Reflecting Together: Peace, Justice, and Reconciliation in Times of War“ abgehalten. Foto: LWB/Albin Hillert

Im vom Krieg zerrütteten Europa denken die Mitgliedskirchen des LWB über Frieden, Gerechtigkeit und Versöhnung nach. Der Eröffnungsgottesdienst wird von Delegierten lutherischer Kirchen aus ganz Europa unter dem Thema „Churches Reflecting Together: Peace, Justice, and Reconciliation in Times of War“ abgehalten. Foto: LWB/Albin Hillert

Europäische LWB-Mitgliedskirchen tagen in Österreich, um theologische und praktische Antworten auf Krieg in Ukraine zu erörtern 

(LWI) – Der seit mehr als 1.000 Tagen anhaltende Krieg in der Ukraine hat tiefgreifende Auswirkungen auf die Mitgliedskirchen des Lutherischen Weltbundes, nicht nur in Bezug auf das diakonische Engagement der Kirchen, sondern auch weil der Konflikt den theologischen Umgang mit den Themen Krieg und Frieden infrage stellt. 

In der Ukraine und in ganz Europa unterstützen die lutherischen Kirchen die notleidenden Menschen auf vielfältige Art und Weise. So wurden beispielsweise Gemeindehäuser geöffnet, um Menschen ein Dach über dem Kopf zu geben, Essen zuzubereiten und Sprachkurse durchzuführen, es wurden Gemeinschaftszentren geschaffen, psychosoziale Unterstützungsangebote bereitgestellt, humanitäre Hilfe in Form von Bargeldhilfen und dem Bau oder der Wiederherstellung von Luftschutzbunkern geleistet. 

Aber ein Krieg, der die Stabilität der Region Europa auf eine Art und Weise erschüttert hat, die es hier seit Jahrzehnten nicht gegeben hat, hat auch in den Vordergrund gerückt, dass die Kirchen gemeinsam darüber nachdenken müssen, wie sie ihre Rolle und Mission verstehen und welche zentralen theologischen Überzeugungen ihr Wirken in Zeiten eines Kriegs bestimmen. 

Vierundvierzig Vertreterinnen und Vertreter von Mitgliedskirchen des LWB in den drei europäischen Regionen sind in Wien, Österreich, zu einer dreitägigen Konsultation zusammengekommen, die sich mit genau diesen Themen beschäftigen sollte und unter der Überschrift „Churches Reflecting Together: Peace, Justice, and Reconciliation in Times of War“ (Kirchen denken gemeinsam nach: Frieden, Gerechtigkeit und Versöhnung in Zeiten von Krieg) stand. 

Existentielle Fragen zu Überleben und Krieg 

Der LWB ist nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs gegründet worden und ist auch heute noch eine einzigartige weltumspannende kirchliche Organisation, die humanitäre Hilfe einerseits und zwischenkirchliche Beziehungen, Theologie, Mission, Zeugnis und Dienst als weltweite Gemeinschaft von Kirchen andererseits unter einem Dach vereint. Er ist daher gut aufgestellt, um einen sicheren Raum für den Austausch zu diesen zentralen theologischen Fragen unserer Zeit zu bieten. 

Die Teilnehmenden an der Konsultation in Wien vom 2. bis 4. Dezember haben Augenzeugenberichte aus der Ukraine gehört, wo der LWB sowohl durch ein Länderprogramm seines Weltdienstes als auch durch eine Mitgliedskirche, die Deutsche Evangelisch-Lutherische Kirche der Ukraine, selbst direkt aktiv ist. Bischof Pavlo Shvarts aus Charkiw berichtete, dass sich Perspektiven verändern – sowohl in Bezug auf die Theologie als auch in Bezug auf den tagtäglichen Dienst der Kirche, wenn man mit existentiellen Fragen wie Leben und Tod konfrontiert ist. 

Er sprach über Theologien des Kriegs und des Friedens und betonte, wie wichtig ein praxisorientierter Ansatz sei. „Es ist einfach, zu sagen, man sei Pazifist, wenn der Krieg weit weg ist. Wenn aber die Raketen in das eigene Haus einschlagen, sieht das ganz anders aus“, erklärte er. Er wies darauf hin, dass er die gesamten fünf Jahre, die er nun im Amt des Bischofs ist, in einer Krisensituation gewirkt habe. „Das klingt im ersten Moment ziemlich traurig, aber tatsächlich gibt es mir auch viele Impulse, weil ich erkenne, dass Gott uns auch in Krisensituationen segnet“, sagte er. „Für mich ist es eine Ehre, unserem Volk dienen zu dürfen, auch wenn ein jeder und eine jede von uns morgen sterben könnte. Jede Minute, jede Stunde, die ich mit diesen Personen verbringen darf, ist in meinen Augen nicht verschwendet“, unterstrich er.  

Frieden verstehen in der heutigen Zeit 

Die Teilnehmenden beschäftigten sich mit verschiedenen Themen wie beispielsweise dem sich wandelnden Erscheinungsbild des Pazifismus und der Frage, wie die lutherische Theologie zur Schaffung gerechter und friedlicher Gesellschaften beitragen kann. Prof. Dr. Petr Kratochvíl vom Zentrum für Europäische Politik am Institut für Internationale Beziehungen in Prag (Tschechische Republik) sprach über die Stellung der Kirchen und erklärte, dass wir „dazu neigen, in Absoluten über uns als Kirchen zu denken, [obgleich oftmals] die Zeit, in der wir leben, großen Einfluss hat, und wir müssen uns überlegen und bewusst machen, woher unsere Betrachtungsweisen und Ideen kommen, in welcher Zeit sie entstanden sind und welche Rahmenbedingungen sie geprägt haben“. 

Nicole Kunkel, Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Humboldt-Universität zu Berlin (Deutschland), sprach in einer theologischen Analyse über die Begriffsbestimmungen von Frieden und Gerechtigkeit. „Wir beobachten derzeit einen deutlichen Kontrast“, erklärte sie; „einige Menschen sind überzeugt, dass wir eine uneingeschränkt pazifistische Herangehensweise brauchen – und nennen das ‚gerechten Frieden‘ –, und auf der anderen Seite gibt es Menschen, die überzeugt sind, dass eine umfassend atomare Herangehensweise notwendig ist, – und für diese Menschen ist das ein ‚gerechter Frieden‘.“ 

Prof. Dr. Katharina Kunter, Professorin für zeitgenössische Kirchengeschichte an der Theologischen Fakultät der Universität Helsinki (Finnland), unterstrich, dass „unser Verständnis von Frieden historisch und kontextabhängig geprägt ist“, und führte aus, dass die Kirchen aufpassen müssten, wie sie „mit der Welt außerhalb der Kirchen“ sprechen. In der ökumenischen Bewegung, erklärte sie, würde das Konzept eines „gerechten Friedens“ oftmals als etwas sehr Konkretes verstanden, aber in der breiteren Öffentlichkeit sei das nicht unbedingt der Fall. 

„Und wenn wir einen Blick in die Zukunft wagen, ist es ziemlich wahrscheinlich, dass wir in Bezug auf die Ukraine einen Frieden akzeptieren müssen, der so unfair und ungerecht ist wie seit vielen Jahrzehnten keiner mehr war... einen Frieden, der verlangt, dass das Land Gebiete abtritt, die derzeit von Russland besetzt sind. Und was werden die Kirchen dazu sagen, wenn das wirklich eintritt?“, fragte sie. 

Studienprozess zu Friedensethik 

Die theologische Reflexion über lutherische Friedensethik angesichts der derzeitigen globalen Herausforderungen in Form von Konflikten und Kriegen wird in den kommenden Jahren vertieft werden, da die Dreizehnten LWB-Vollversammlung einen offiziellen Studienprozess zu diesem Thema beschlossen hat und dieser nun anlaufen wird. 

Ein weiteres der vielen Themen, die in Wien erörtert wurden, sprach die LWB-Programmreferentin für globale lutherische Theologie, Pfarrerin Dr. Eva Harasta, an. Sie wies auf Martin Luthers Ausführungen zum Vaterunser und dort insbesondere die Worte „Dein Wille geschehe“ hin. „Dieser himmlische Frieden, nach dem wir alle uns sehnen, ist nichts, was vollständig losgelöst ist von uns. Gottes Wille wird mit oder ohne uns geschehen, aber wir beten, dass er wenigstens teilweise mit und durch uns geschieht“, erklärte sie. 

Rebekka Meissner, die LWB-Programmreferentin für die Projekte von Mitgliedskirchen, hob hervor, dass die Konsultation einen Rahmen für respektvollen und ehrlichen Austausch zu den Arbeitsansätzen und Erfahrungen der Kirchen in ganz Europa geboten habe, was nicht nur angesichts der verschiedenen Entwicklungsgeschichten und Lebensrealitäten der Kirchen in dieser Region in ihren Augen wichtig gewesen sei. 

„Die Konsultation war ein Anfang, um zu erkunden, wo wir als Kirchen aktuell stehen, und zu eruieren, wie es für uns als Kirchengemeinschaft in den kommenden Jahren weitergehen soll“, sagte der LWB-Regionalreferent für Europa, Pfr. Dr. Ireneusz Lukas, zum Abschluss.

LWB/A. Hillert