Interview mit Dr. Mary Philip vom Martin Luther University College, Kanada
WATERLOO, Kanada/GENF (LWI) – „Wir können nicht einfach zur Normalität von vor ein paar Monaten zurückkehren“, sagt Mary Philip, außerordentliche Professorin für weltweite lutherische Theologie und Mission am Martin Luther University College (Kanada) wenn sie auf die vergangenen Monate seit Beginn der Coronavirus-Pandemie zurückblickt.
Wenige Tage vor dem Beginn der diesjährigen „Zeit der Schöpfung“, die unter dem Motto „Jubeljahr für die Erde“ stehen wird, mahnt sie eindringlich: „Wir müssen auf die Bremse treten, innehalten, uns fragen: Was haben wir gemacht, wie haben wir gelebt? Wenn wir eine Zukunft auf diesem Planeten haben wollen, müssen wir umdenken, neue Konzepte entwickeln, uns selbst neu einordnen und auch unsere Beziehungen untereinander und zur Mutter Erde, die uns eine Heimat gibt, neu denken.“
Philip ist studierte Zoologin und Theologin. Sie wurde in Saudi-Arabien geboren, nennt Indien ihre „Heimat“ und unterrichtet an einer kanadischen Hochschule. „Wo immer ich bin, versuche ich jenen Ort abzubilden, der in meinem Inneren ist“, erklärt sie. "Ich bin ein Hybrid – genau wie meine Theologie.“
Die jüngste Ausgabe der Fachzeitschrift für öffentliche Theologie, „Consensus – A Canadian Journal of Public Theology“, dessen Chefredakteurin Sie sind, beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit dem Thema „Nachhaltigkeit und Religion“ und enthält verschiedene Beiträge von der interdisziplinären Konferenz, die im Februar dieses Jahres in Bergen (Norwegen) stattgefunden hat. Können Sie kurz zusammenfassen, welches Ziel diese Ausgabe verfolgt?
Der Klimawandel ist das zentrale Thema des 21. Jahrhunderts. Der Lutherische Weltbund (LWB) hat sehr deutlich formuliert, dass der Klimawandel für die lutherische Kirchengemeinschaft nicht einfach etwas Abstraktes ist, und dass Nachhaltigkeit im Zusammenhang mit dem Thema Klimawandel von zentraler Bedeutung ist.
Nachhaltigkeit spielt auch auf der Agenda 2030 der Vereinten Nationen eine herausragende Rolle. Das übergeordnete Ziel ist, Entwicklung und Fortschritt zu fördern und gleichzeitig den Planeten zu schützen. Nachhaltigkeit nicht nur ein Fachbegriff, der bestimmte Verfahrensweisen in den verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen beschreibt, sondern ein Konzept, das tief verwurzelt ist in den Kosmologien und Weisheitstraditionen unseres Glaubens.
Unsere Religion beruft uns dazu, aktiv an der Bewahrung der Schöpfung mitzuwirken und uns für eine gerechtere, nachhaltigere und friedlichere Welt einzusetzen. Das muss sich in unserem Lebenswandel widerspiegeln. Unabhängig davon, wo wir leben und welcher Religion wir angehören, müssen wir alle dazu beitragen, die heutige Generation zu befähigen, nachhaltig zu leben – und auch uns selbst müssen wir dahingehend formen.
Inwiefern fördert das Thema Nachhaltigkeit die Zusammenarbeit von Theologie, angewandter Forschung, juristischen Fachpersonen und politischen Führungspersonen?
Das Zauberwort hier heißt „Verflechtung“, das Miteinander-Verbundensein. Wobei das nichts mit Zauberei zu tun hat. Vielmehr trifft es den Kern unseres irdischen Daseins. Wir alle leben auf dem gleichen Planeten und sind eine Menschheitsfamilie. Was ich an einem Ende der Welt tue, hat überall – nah und fern – Auswirkungen. Nur in einem Bereich oder in einem Fachgebiet nachhaltig zu sein oder sich darum zu bemühen, wird das Problem nicht lösen. Nachhaltigkeit muss überall erreicht werden, und wir alle müssen unseren Teil dazu beitragen.
Ob Theologin oder Wissenschaftler, Juristin oder politische Führungsperson – wir alle haben das gleiche Interesse und das gleiche Problem, und wir alle müssen uns aus dem Blickwinkel unserer jeweiligen Tradition oder unserem jeweiligen Fachgebiet heraus gemeinsam für die Bewahrung der Erde einsetzen. Deshalb müssen wir herausfinden, wie wir auf eine Art und Weise zusammenleben können, bei der mein eigenes Wohlergehen nicht auf Kosten von anderen erreicht wird. Ein interdisziplinärer Dialog zum Thema Nachhaltigkeit kann genau solch einen Raum bieten, um zu erkunden, wie wir ökologisches Bewusstsein durch Bildung fördern können. Keine Fachdisziplin und kein Wissenschaftsbereich ist eine Insel – Theologie nicht, die Sozialwissenschaften nicht, die Rechtswissenschaften nicht, Politik nicht. Sie alle sind eng miteinander verbunden!
John Donne schrieb schon im 16. Jahrhundert: „Niemand ist eine Insel, in sich ganz; jeder Mensch ist ein Stück des Kontinents, ein Teil des Festlandes [...] Jedes Menschen Tod ist mein Verlust, denn ich bin Teil der Menschheit; und darum verlange nie zu wissen, wem die Stunde schlägt; sie schlägt dir selbst.“ Das gilt auch heute noch. Wir sitzen alle im gleichen Boot!
Die Konferenz hat stattgefunden kurz bevor weltweit drastische Maßnahmen zur Eindämmung der Coronavirus-Pandemie ergriffen wurden. Welchen Einfluss hätten die Erfahrungen der vergangenen Monate rückblickend wohl auf die Diskussionen und Gespräche auf der Konferenz gehabt?
In der Geschichte hat es immer wieder Pandemien gegeben – die Pest, Pocken, Cholera, die Spanische Grippe, SARS, Ebola –, von denen einige schlimmer waren als andere. COVID ist nur die letzte in dieser Reihe, und bisher wissen wir noch nicht viel über diese Pandemie. Was COVID allerdings bewirkt hat, ist ein Bruch, eine dringend erforderliche Pause. Ich will damit nicht sagen, dass die Pandemie etwas Gutes ist. Aber sie hat uns gezwungen, bestimmte Dinge nicht mehr zu tun und Verhaltensweisen einzustellen, die gefährlich normal geworden waren. Während sie der Natur eine Verschnaufpause von der Habgier der Menschen verschaffte, hat sie auch viele Ungerechtigkeiten in den Gesellschaften in aller Welt aufgedeckt.
Am schwersten trifft COVID-19 die Armen und Entmündigten. Wenn ich die oft gestellte Frage hören, wann wir wieder zur Normalität zurückkehren können, möchte ich ganz laut einfach nur „Nein!“ rufen. Wir können nicht zur Normalität von vor ein paar Monaten zurückkehren. Wir müssen auf die Bremse treten, innehalten, uns fragen: Was haben wir gemacht, wie haben wir gelebt? Wenn wir eine Zukunft auf diesem Planeten haben wollen, müssen wir umdenken, neue Konzepte entwickeln, uns selbst neu einordnen und auch unsere Beziehungen untereinander und zur Mutter Erde, die uns eine Heimat gibt, neu denken.
Sehr prägnant formuliert hat das die Aktivistin Sonya Renee Taylor: „Unsere Existenz vor Corona war nicht normal – außer vielleicht in dem Sinne, dass wir Dinge wie Habgier, Ungerechtigkeit, Überlastung, Raubbau, Auslaugung, Loslösung von allem, Verwirrung, Zorn, Horten, Hass und Mangel zur Normalität erklärt hatten […] Aber jetzt bekommen wir gerade die Chance, ein neues Kleidungsstück zu fertigen. Eines, in dem die ganze Menschheit und Natur sich wohlfühlt.“
Mein Landsmann Arundhati Roy formulierte es so: „Historisch betrachtet haben Pandemien die Menschen immer gezwungen, mit der Vergangenheit zu brechen und sich eine neue Welt auszumalen und zu gestalten. Bei dieser ist es nicht anders. Sie ist ein Tor, eine Pforte zwischen der einen Welt und der nächsten. Wir können hindurchgehen und die Kadaver unserer Vorurteile und unseres Hasses, unserer Habgier, unserer Datenbanken und toten Ideen, unserer toten Flüsse und verrauchten Luft mitschleppen. Oder wir können leichten Fußes und mit wenig Gepäck hindurchschreiten – bereit, uns eine andere Welt auszumalen und zu gestalten. Und mit der Bereitschaft, uns für diese einzusetzen.“
Ich persönlich glaube, dass die Gespräche und Diskussionen auf der Konferenz das berücksichtigt und ernst genommen hätten und dass die Diskurse COVID-19 sowohl als Bedrohung, aber auch als Schwelle zu etwas Neuem verstanden hätten. Eine Schwelle zu einer neuen und besseren Welt.
Die Themen Frauen, Klimawandel und Öko-Theologie liegen Ihnen sehr am Herzen. Welchen Zusammenhang gibt es zwischen diesen drei Themen?
Der Klimawandel hat auch geschlechtsspezifische Auswirkungen. Fast überall auf der Welt herrscht immer noch Ungleichheit zwischen den Geschlechtern, und durch klimabedingte Naturkatastrophen werden diese bestehenden Ungleichheiten verschärft. Es ist erwiesene Tatsache, dass es vor allem die Frauen waren, die sich um den Schutz und die Bewahrung der Erde gekümmert haben. Trotzdem sind Frauen aufgrund ihrer gesellschaftlichen Rollen, insbesondere in Bezug auf die Produktion und das häusliche Leben, durch den Klimawandel stärker gefährdet. Der Klimawandel trifft also insbesondere jene unverhältnismäßig stark, die am wenigsten dazu beigetragen haben – Frauen und Kinder (von den ärmsten der Armen in der Welt will ich ganz zu schweigen). Mit anderen Worten: Frauen sind mit einem Öko-Rassismus konfrontiert. Und sie sind auch anfälliger für ökologisch bedingten Stress, weil Naturkatastrophen für sie – auch hier – aufgrund ihrer gesellschaftlichen Rolle und aufgrund von Armut und der mangelnden Gleichstellung der Geschlechter, schlimmere Folgen haben.
Aber genau wie eine Lotusblume, die in schlammigem Wasser wächst und blüht, trotzen Frauen diesen Umständen und geben nicht auf, sondern werden zu Botschafterinnen des Wandels, zu Botschafterinnen für Umwelt- und Öko-Gerechtigkeit. Der Bericht von UN Watch zum Thema Gender und Klima hat gezeigt, dass Frauen umfangreiche Kenntnisse und viel Fachwissen haben, die im Klimaschutz genutzt werden können. Frauen sind besonders umweltsensibel und haben ein großes Umweltbewusstsein, und sie sehen den Geist der Weisheit als Heilung bringende und lebensspendende Kraft. Sie verbinden das Heilige, das der Natur in Bäumen, Pflanzen und dem Wasser innewohnt, mit dem Wissen der Sophia, der Weisheit, und entwickeln dadurch eine Öko-Theologie, die ihre Praxis untermauert. Lutherische Kirchen weltweit beteiligen sich am Diskus zu den Themen Klimawandel und Nachhaltigkeit im Glauben. Aber wir müssen uns für eine größere Beteiligung und umfassendere Teilhabe von Frauen an Klimaschutzinitiativen einsetzen.
Sie bieten am Martin Luther University College unter anderem Seminare zum Thema Umweltbewusstsein und zu der Erd-Charta an. Wie gut ist die Öko-Theologie Ihrer Wahrnehmung nach an Universitäten und Hochschulen weltweit etabliert?
Nicht so gut, wie sie es sein sollte. Öko-Theologie als solche wird an Universitäten laut Daten, die die Times Higher Education (22. April 2020) zusammengetragen hat, nicht unterrichtet. Viele Universitäten nehmen aber die Themen Klimawandel und Nachhaltigkeit in ihren Lehrplänen auf. Kanadische Universitäten zählen hier zu den Top 5.
Bildungseinrichtungen müssen sich grundsätzlich in die Diskurse einbringen, die unser traditionelles Verständnis von unserem Verhältnis zur Erde – und folglich unserem Verhältnis untereinander und zum Göttlichen, dem wir unterschiedliche Namen geben – überprüfen und in Frage stellen. Universitäten und Hochschulen müssen ihren Studierenden ein neues Bewusstsein, ein Umweltbewusstsein oder Bewusstsein für die Erde vermitteln, das das Kollektiv und nicht nur den Einzelnen oder die Einzelne wertschätzt, das das Miteinander-Verbundensein und nicht die Spaltung wertschätzt. Unsere Geschichte mit ihren Herrschaftsverhältnissen und ihrer Unterdrückung muss in eine Beziehung der Verbundenheit verwandelt, und die Verletzungen und Schäden wiedergutgemacht werden, die an Völkern, Orten, Pflanzen, Tieren, Bergen, Flüssen und Ozeanen verübt wurden.
Vor allem aber müssen Bildungseinrichtungen umsetzen, was sie ihre Studierenden lehren. Sie selbst müssen ihren auffordernden Worten an die Studierenden Taten folgen lassen. Nachhaltigkeit muss sich in der eigenen Praxis und im Wertekodex niederschlagen. Sie muss sich in ihren Strukturen, Systemen, Prozessen und modi operandi widerspiegeln, die sie vermitteln.
Eine Konferenz zum Thema eine interdisziplinäre Konferenz zum Thema „Sustainability and Climate in Religion“ (Nachhaltigkeit, das Klima und Religionen) fand vom 12. bis 14. Februar in Bergen (Norwegen) statt. Die Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Westnorwegen, die Norwegische Kirche, der norwegische Rat der Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften (Samarbeidsrådet for tros og livssynssamfunn), das Ökumenischen Institut für Theologie Al Mowafaqa und des LWB waren daran beteiligt.
Consensus, Volume 41, Issue 1 (2020) kuratiert die Beiträge der Konferenz. Einer mit dem Titel "Women, Climate Change and Eco-theology" (Frauen, Klimawandel und Öko-Theologie) stammt von Mary Philip.
Stimmen aus der Kirchengemeinschaft:
Der Lutherische Weltbund (LWB) ist eine weltweite Gemeinschaft, deren Mitglieder sich gemeinsam für das Werk und die Liebe Christi in der Welt einsetzen. In dieser Reihe präsentieren wir Kirchenleitende und Mitarbeitende, die über aktuelle Themen sprechen und Ideen entwickeln, wie Frieden und Gerechtigkeit in der Welt geschaffen werden und die Kirchen und die Gemeinschaft in ihrem Glauben und ihrem Engagement wachsen können.
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