Palästina: Frauen vertrauen darauf, dass Richterinnen „sie verstehen“

19 Nov. 2021
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Scarlet Bishara ist Richterin am Kirchengericht der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Jordanien und im Heiligen Land. Foto: LWB/Ben Gray

Scarlet Bishara ist Richterin am Kirchengericht der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Jordanien und im Heiligen Land. Foto: LWB/Ben Gray

Interview mit Richterin Scarlet Bishara vom lutherischen Kirchengericht

JERUSALEM, Palästina/GENF (LWI) – Als einzige Frau, die in Palästina als Richterin an einem Kirchengericht arbeitet, das für die christliche Bevölkerung für Familiensachen zuständig ist, hofft Juristin   Scarlet Bishara, ein Mitglied der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Jordanien und im Heiligen Land (ELKJHL), dass ihre Tätigkeit als theologisch und von der Bibel inspiriertes Vorbild für andere Religionsgemeinschaften dienen kann.

Dem lutherischen Kirchengericht wurde 2014 von der Palästinensischen Autonomiebehörde für die Regelung von Familienangelegenheiten volle Autonomie gewährt.

2015 haben fünf Frauen des Frauenausschusses der ELKJHL, angeregt durch das „Grundsatzpapier: Gendergerechtigkeit im LWB“, den Kirchenrat der ELKJHL aufgefordert, das lutherische Familienrecht zu ändern, damit es für alle Geschlechter und für Kinder gerechter ist. Das Familienrecht ist die Grundlage, auf der das Gericht Urteile in Scheidungs-, Erbschafts-, Sorgerechts- und Unterhaltsangelegenheiten, in Sachen Heiratsalter und anderen Familiensachen fällt.

Die palästinensische Rechtsanwältin  Bishara war eine dieser fünf Frauen. Heute spricht sie mit der Lutherischen Welt-Information darüber, dass es für Frauen, die sich um Gerechtigkeit bemühen, Vertrauen und eine willkommene Vertrautheit schafft, dass sie als Frau Teil des Gerichts ist.

Erzählen Sie uns doch bitte kurz etwas über das lutherische Kirchengericht in Ihrem Land.

In Palästina werden Rechsstreitigkeiten im Bereich des Familienrechts von den Religionsgemeinschaften abgewickelt.  Neben dem islamischen Sharia-Gericht gibt es vier christliche Kirchengerichte: das katholische, das anglikanische, das orthodoxe und das lutherische. Jede dieser Konfessionen hat ihre eigenen Gesetze.

Jede Konfession hat eigene Personenstandsgesetze und ein Gericht, das für Familiensachen zuständig ist. Aber die religiösen Gesetze, die in Palästina und im Nahen Osten zur Anwendung kommen, gehören zu den größten Hürden für die Umsetzung von Gendergerechtigkeit. Das hat auch der Frauenausschuss vor einigen Jahren festgestellt und hat daraufhin dem Kirchenrat einen Vorschlag zum lutherischen Familienrecht vorgelegt. Bei uns ist es die Regel, dass das Familienrecht in den Gerichten in allen Angelegenheiten rund um Ehe, Scheidung und Sorgerecht für Kinder diskriminierend ausgelegt wird. In der Vergangenheit haben diese Gesetze den Männern die rechtliche Macht gegeben, das Schicksal ihrer Ehefrauen zu Hause und in der Gesellschaft allgemein zu kontrollieren.

Das „lutherische Familienrecht“ aber schafft einen zukunftsfähigen Rahmen für die Lösung von Frage, wie die geschlechtsspezifische Unausgewogenheit im Personenstandsgesetz in Palästina gelöst werden könnte, die von den Institutionen aller Religionen nach wie vor befördert wird.

Das „Grundsatzpapier: Gendergerechtigkeit im LWB“ hat uns als Kirche geholfen, die theologischen Argumente lösungsorientiert nachzuvollziehen und besser zu verstehen, inwiefern die Bibel und die Lehren Jesu Gendergerechtigkeit untermauern. Darüber hinaus haben wir die Erklärungen aus einem palästinensischen Blickwinkel heraus genauer angeschaut, um festzustellen, wie sie für uns in unserem konkreten Kontext und bei unserer Schwerpunktsetzung auf die Gleichberechtigung von Frauen und Männern eine Orientierungshilfe sein können.

Ich bin überzeugt, dass die Religionsgemeinschaften in Palästina einzigartig aufgestellt sind, sich an vorderster Front für die Rechte von Frauen in Palästina einzusetzen.

2015 zum Beispiel wurde das Familienrecht dahingehend geändert, dass Mädchen nun nicht mehr im Alter von 14 Jahren, sondern erst mit 18 Jahren verheiratet werden können, und dass beide Eheleute das Recht haben, eine Ehe zu beenden. Es legt nun zudem gleiche Rechte und Pflichten bei der finanziellen Unterstützung und dem Sorgerecht für Kinder im Falle einer Scheidung fest und schreibt eine gleiche Erbberechtigung von allen Kindern (Jungen und Mädchen) verstorbener Eltern vor. Das alles sind Änderungen, die die Mädchen in unserer Gesellschaft schützen sollen.

Wie können Frauen einen Fall vor das Kirchengericht bringen?

Aufgrund unserer Kultur ist es oftmals der letzte Ausweg für eine Familie und insbesondere für Frauen, wenn sie einen Fall vor das Kirchengericht bringen. Daher kommen Frauen oft erst zum Gericht, nachdem sie Hilfe bei ihren Familien, ihren Vätern und ihren Pastorinnen und  Pastoren gesucht haben. Oftmals ist ihr Leid dann aber nicht vorbei, weil die Urteile normalerweise – insbesondere bei der katholischen und einigen orthodoxen Kirchen – von unverheirateten Männern, Priestern, gesprochen werden.

Und für unverheiratete Männer ist es schwer, die Situation der Frauen zu verstehen.

Typischerweise geben die meisten Männer erst einmal den Ehefrauen die Schuld und sagen, „sie hat nicht gut gekocht und hat ihren Ehemann verärgert. Sie hat die Kinder nicht gut erzogen oder ist ihrem Ehemann nicht gerecht geworden, daher hat er sie geschlagen.“ Das ist die kulturelle Norm hier bei uns im Nahen Osten.

Aber als Frau in der Richterrolle, höre ich die Frauen, verstehe sie. Sie vertrauen mir mit ihrer Geschichte, weil ich eine Frau bin.

Ich weiß auch, welche Konsequenzen es hat, wenn man einer Frau nicht zuhört und glaubt. In der Vergangenheit wurden wir einfach weggeschickt. Uns wurde gesagt, wir sollen „Geduld haben“ oder „unseren Ehemännern noch eine Chance geben“, was dazu geführt hat, dass viele Frauen und Kinder durch häusliche Gewalt schwer verletzt wurden.

Wer gehört dem Gericht neben Ihnen noch an und akzeptieren sie Ihre Rolle?

Ich bin 2015 auf Lebenszeit zur Richterin an diesem Gerichts ernannt worden und neben mir gehören dem Gericht noch zwei Pastoren der ELKJHL und der Vorsitzende des Gerichts, ELKJHL-Bischof Sani Ibrahim Azar, an. Sie alle achten und respektieren meine Meinungen, stehen voll uns ganz hinter mir als Richterin und akzeptieren meine Entscheidungen in den Fällen, die von mir bearbeitet wurden.

Bischof Azar hat mir auch seinen Segen für die Fortführung meines Engagements für die Umsetzung von Gendergerechtigkeit in der Kirche gegeben. Erst vor Kurzem haben er und der Kirchenrat eine weitere Frau zur Richterin am Berufungsgericht der ELKJHL ernannt. Sie hat ihre Stelle jedoch noch nicht angetreten.

Heute  arbeiten auch im Frauenausschuss, dem ich weiterhin angehöre, Männer und Frauen gut zusammen, um Gendergerechtigkeit als zentralen Aspekt des Engagements der ELKJHL zu bewahren. Am 2. Dezember soll eine Dokumentation über die Fortschritte in Bezug of Gendergerechtigkeit in der ELKJHL und im lutherischen Familienrecht veröffentlicht werden.

Der Kirchenrat, die Synode und die Ältesten – die drei Leitungsgremien der ELKJHL – wollen erstmals eine Frau in den Kirchenrat wählen. Der Frauenausschuss hat daher viele Konferenzen und Treffen veranstaltet, um Frauen zur Kandidatur zu ermutigen.

Warum haben Sie sich für eine Karriere als Juristin entschieden? Haben Sie sich auch außerhalb des Gerichts für den Schutz der Rechte aller Menschen eingesetzt?

In jungen Jahren war ich Idealistin und wollte Rechtsanwältin werden, um Unschuldige zu verteidigen und Menschen zu ihrem Recht zu verhelfen.

Ich tue alles, was ich kann, um diesen Traum nicht aus den Augen zu verlieren. Erst vor Kurzem habe ich eine Reihe von Sensibilisierungsseminaren für Frauen aller christlichen Konfessionen zum Thema „Gendergerechtigkeit und Personenstandsrecht der Kirche“ gehalten und wie dies für soziale Gesellschaften und gemeinnützige Organisationen verbessert werden kann. Darüber hinaus habe ich eine Reihe von Veranstaltungen für Frauen in der ELKJHL zum selben Thema sowie eine Veranstaltung zum Thema „Frauen, Kinder und die Menschenrechte von jungen Erwachsenen“ für die christlichen Kirchen und in der Zentrale der Pfadfinderorganisation der katholischen Kirche organisiert.

Im März 2019 haben Sie im Büro des UN-Ausschusses für das Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW) eine Rede gehalten. Über welches Thema haben Sie dort gesprochen?

Richtig. Ich habe im Rahmen einer Nebenveranstaltung gesprochen, die der LWB und die Schwedische Kirche zum Thema „Religious Actors Promoting Gender Equality Through Personal Status Laws in Palestine“ (Religiöse Akteure fördern durch Personenstandsrecht Gendergerechtigkeit in Palästina) als ein System der sozialen Sicherung organisiert hatten.

Ich habe in dieser Präsentation meiner Freude und Begeisterung Ausdruck verliehen, dass es in der ELKJHL möglicherweise schon bald eine Stratregie für Gendergerechtigkeit geben könnte. Anfangs hatte ich noch gehofft, dass es ein ökumenisches Gesetz für alle Christinnen und Christen geben würde, das für Gerechtigkeit für alle Frauen sorgen würde.

Insgesamt glaube ich, dass es aufgrund des dualen Gerichtswesens im Nahen Osten – der Aufteilung in Zivilgerichte und religiöse Gerichte – die Religionsgemeinschaften sein werden, die eine Führungsrolle bei der Umsetzung eines Systems übernehmen werden, das auch für Frauen gerecht ist.

In der arabischen Welt liegt Wandel in den Händen der religiösen Führungspersonen, aber dieser Wandel geht nur langsam vonstatten. Viele Kirchen schauen auf unsere Kirche und sie wünschen sich Veränderungen, insbesondere die Frauen, aber die Geistlichen und die patriarchalische Gesellschaft sind nicht so einfach zu überzeugen.

Was bedeutet es für Ihre Kirche, Ihre Arbeit und Sie persönlich, Teil der weltweiten Gemeinschaft von Kirchen zu sein?

Ich bin stolz, Teil der ELKJHL zu sein, die auch aktiv umsetzt, was sie predigt: Gendergerechtigkeit. Meine Arbeit als Richterin und als Aktivistin für Gendergerechtigkeit bereitet mir Freude. Ich weiß die Arbeit des LWB auf diesem Gebiet in aller Welt sehr zu schätzen und ich fühle mich geehrt, dass ich meine Kirche im LWB und in UN-Foren zu diesem Thema vertreten durfte.

Von LWB/A. Gray. Deutsche Übersetzung: Andrea Hellfritz

 

Stimmen aus der Kirchengemeinschaft:

Der Lutherische Weltbund (LWB) ist eine weltweite Gemeinschaft, deren Mitglieder sich gemeinsam für das Werk und die Liebe Christi in der Welt einsetzen. In dieser Reihe präsentieren wir Kirchenleitende und Mitarbeitende, die über aktuelle Themen sprechen und Ideen entwickeln, wie Frieden und Gerechtigkeit in der Welt geschaffen werden und die Kirchen und die Gemeinschaft in ihrem Glauben und ihrem Engagement wachsen können.

 

LWF/OCS