Reformierte Kirchen: Theologie im Dienst der Gerechtigkeit

19 Aug. 2022

Pfarrer Dr. Hanns Lessing, geschäftsführender Generalsekretär der WGRK, über die Dringlichkeit ökumenischen Handelns für eine gerechte Welt

Image
Der geschäftsführende Generalsekretär der WGRK, Hanns Lessing, spricht auf der LWB-Ratstagung 2022 in Genf. Foto: LWB/S. Gallay

Der geschäftsführende Generalsekretär der WGRK, Hanns Lessing, spricht auf der LWB-Ratstagung 2022 in Genf. Foto: LWB/S. Gallay

(LWI) – „Theologie ist von Belang“, denn sie kann „unsere Arbeit für Gerechtigkeit anleiten und anregen.” Diese Überzeugung bildet die Grundlage für das geistliche Wirken von Pfarrer Dr. Hanns Lessing, der aktuell als geschäftsführender Generalsekretär der Weltgemeinschaft Reformierter Kirchen (WGRK) tätig ist. Lessing ist ordinierter Geistlicher der Evangelischen Kirche von Westfalen in Norddeutschland und für viele Menschen im Genfer Ökumenischen Zentrum und der breiteren ökumenischen Welt ein bekanntes Gesicht.

Als Sohn eines in derselben Kirche tätigen Pastorenpaares beschäftigte sich Lessing sein gesamtes Erwachsenenleben über mit Theologie im Dienst der Gerechtigkeit. Zu Beginn seiner Karriere unterrichtete er zehn Jahre lang Seminare in Namibia in Theologie und Ökumene und arbeite zur selben Zeit an einem Studienprozess, der Kirchen beim Umgang mit dem Vermächtnis von Kolonialismus und Apartheid helfen sollte.

Neben seiner Tätigkeit im Rahmen des „Kollegium“-Generalsekretariats, während der Umstrukturierungsphase der WGRK ist Lessings Hauptfunktion die des Exekutivsekretärs für Gemeinschaft und Theologie. In dieser Funktion vertritt er die weltweite Gemeinschaft aus 235 Kirchen in 105 Ländern mit rund 100 Millionen reformierten Christinnen und Christen auf vielen internationalen und ökumenischen Veranstaltungen. Eine wichtige Rolle kommt seinem Mitwirken an der Ausgestaltung der Beziehungen zwischen der WGRK und dem Lutherischen Weltbund (LWB) zu.

Initiativen für wirtschaftliche Gerechtigkeit

„Ungefähr vier Fünftel unserer Mitglieder leben auf der Südhalbkugel“, merkt Lessing an, „und darum pendelt unsere Bewegung um die Mitte des Christentums von Norden nach Süden. Davon werden unsere Spiritualität, unsere politische Haltung und unsere Theologie der Gerechtigkeit geprägt, wohingegen wir das Konzept der Mission von den Rändern schon ziemlich gut angenommen haben“, sagt er.

Im Rahmen dieses Schwerpunktes steht die WGRK an der Spitze eines wichtigen ökumenischen Programms zur Förderung von mehr wirtschaftlicher Gerechtigkeit, vor allem für Menschen, die mit den anhaltenden Folgen des Kolonialismus leben. Die Initiative für eine neue internationale Finanz- und Wirtschaftsarchitektur (NIFEA) entstand 2004 auf einer Tagung in Ghana, wo laut Lessing „die reformierten Kirchen erklärten, dass die Wirtschaft ein Glaubensthema sei, da ein Wirtschaftssystem, das Armut, Ungerechtigkeit und Hunger erzeugt, das mit militärischen Mitteln geschützt und mit umstrittenen Ideologien gesichert wird, im Widerspruch zu Gottes Bund mit der Erde steht.“

Die unter dem Namen Bekenntnis von Accra bekannt gewordene Erklärung „war Anlass für eine Menge ökumenischer Diskussionen, als den Kirchen bewusst wurde, wie wichtig es ist, die Sprache der wirtschaftlichen Gerechtigkeit zu lernen“, sagt Lessing. „Wenn wir uns darauf einigen können, dass es sich bei der Wirtschaft um die Buchstaben des Glaubens handelt, dann müssen wir uns fragen, was wir als Kirchen tun können, um einen Unterschied zu bewirken.“

GEM-Seminar und ZacTax

Als Antwort auf diese Frage schuf das NIFEA-Programm – eine Zusammenarbeit der WGRK mit dem LWB, dem Ökumenischen Rat der Kirchen (ÖRK) und dem Weltmissionsrat (CWM) – zwei sehr praxisorientierte Initiativen. Bei der ersten handelt es sich um eine jährliche Schulung über Leitung, Wirtschaft und Management, auch bekannt als GEM-Seminar für eine Ökonomie des Lebens, bei der Schlüsselkompetenzen für die Advocacy-Arbeit vermittelt werden, um für eine effizientere Interaktion mit der Regierungspolitik in verschiedenen Kontexten zu sorgen.

Eine zweite erfolgreiche Initiative, die 2019 bei den Vereinten Nationen in New York ins Leben gerufen wurde, ist die Zachäus-Kampagne für Steuergerechtigkeit. Die ökumenische „ZacTax“-Kampagne basiert auf der biblischen Geschichte von Zachäus, dem Steuereintreiber, der Jesus begegnete, seine schlechten Taten bereute und bestrebt war, das frühere Unrecht und die Ausbeutung wiedergutzumachen. „Zwar wird respektiert, dass die Kirchen Steuerprobleme bekannt machen, doch müssen wir mehr auf eine erfolgreiche Mission hinarbeiten, und dazu benötigen wir die Anleitung durch Schulung, Besinnung und Theologie bei der Fürsprache für wirtschaftliche Gerechtigkeit“, betont Lessing.

Geschlechtergerechtigkeit ist ein weiteres Schwerpunktthema, das „ganz weit oben auf der Tagesordnung der reformierten Kirchen steht“, sagt Lessing. 2017 nahm die WGRK „Glaubensstellung“ zu Frauen im Amt, mit der sie ausdrückte, dass sie „Wert auf das Priestertum aller Gläubigen legt. Deshalb ist es gegen das Evangelium, Frauen die Ordination zu verweigern.“ Seine eigene Überzeugung ist geprägt von der Erfahrung seiner Mutter, die in einer der vereinigten Kirchen in Deutschland bereits Anfang der 1960er Jahre zur Geistlichen geweiht wurde, der die Weihesakramente jedoch entzogen wurden, als sie ein Jahr später heiratete. (Sie erhielt diese im darauffolgenden Jahrzehnt zurück, als das Kirchenrecht geändert wurde, und später wurde sie zur Präsidentin des Ältestenrats in ihrer Gemeinde gewählt.)

Streben nach Gemeinschaft und gemeinsamem Zeugnis

Die praktische Zusammenarbeit kennzeichnet auch weiterhin die Beziehungen zwischen der WGRK und dem LWB „beim Streben nach Gemeinschaft und gemeinsamem Zeugnis“, wie sie 2017 in ihrer Erklärung, dem Wittenberger Zeugnis, bekräftigten. Gegen Ende des Jahres werden sie in zwei weiteren Initiativen zusammenarbeiten, bei denen es darum geht, die gemeinsame theologische Betrachtung in der Zeit nach der Pandemie zu erschließen und zu vertiefen. Bei der ersten Initiative handelt es sich um eine Hybrid-Konferenz über Pandemie und Pädagogik, die am Theologischen Dreifaltigkeitsseminar in Accra stattfindet und Bilanz zieht über „die Bedrohungen und Chancen“, die sich für die theologischen Einrichtungen, während der COVID-19-Phase „aufgetan haben“.

Lessing stellt fest, dass die Pandemie „sowohl eine Krise als auch eine Chance für viele kirchliche Schulen, Seminare und Institute“ war. Auf der Konferenz im Dezember, fährt er fort, werde der Frage nachgegangen, wie die Kirchen mit dem Trauma und den Herausforderungen für die Belegschaft und die Studierenden umgegangen sind. Außerdem werde man sich über optimale Methoden in der digitalen Technik austauschen und schließlich werde untersucht, auf welche Weise diese Institutionen „ihre Ziele und Zielvorgaben überdenken mussten. Viele sahen darin eine Gelegenheit, über ihre traditionelle Rolle hinauszugehen und in einer Zeit, in der die Gesellschaft insgesamt von einer Krise betroffen war, einen Beitrag zur Ausbildung und Wahrnehmung von Laien zu leisten.“ 

Auf einer zweiten, von WGRK und LWB geplanten Konferenz sollen Kernthemen rund um das Recht auf Religions- und Weltanschauungsfreiheit untersucht werde, die, so Lessing, „für erhebliche Diskussionen in vielen unserer Mitgliedskirchen sorgt und sich in ihren verschiedenen Kontexten unterschiedlich auswirkt.“ Angefangen bei der Verfolgung von Kirchen in nichtchristlichen Ländern bis hin zur Ausnutzung der Religionsfreiheit, um einen Krieg in Europa zu rechtfertigen, wird die Konferenz verschiedene Szenarien studieren und einen Leitfaden für Kirchen erarbeiten, die versuchen, sich in diesen komplexen Fragen zurechtzufinden.

Wir haben uns nicht zu einheitlichen Zielen verpflichtet, sondern vielmehr zusammen für eine neue Vision gebetet, wie wir die Einheit ausleben, die wir bereits gemeinsam haben.

– Pfarrer Dr. Hanns Lessing, geschäftsführender Generalsekretär der WGRK

„Jahrzehnte des theologischen Dialogs haben gezeigt, dass es nichts Kirchenspaltendes gibt, was die lutherischen und reformierten Kirchen trennt“, sagt Lessing abschließend, „doch die große Frage für uns lautet, wohin führt das? Unser Wittenberger Zeugnis, das den 500. Jahrestag der Reformation markiert, war wichtig, denn wir haben uns nicht zu einheitlichen Zielen verpflichtet, sondern vielmehr zusammen für eine neue Vision gebetet, wie wir die Einheit ausleben, die wir bereits gemeinsam haben.“

LWF/P. Hitchen