Russland: Als kleine Kirche in einem großen Land bestehen

06 März 2024

Der stellvertretende Erzbischof der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Russland, Pfr. Dr. Anton Tikhomirov, berichtete über die theologische Ausbildung und die aktuelle Situation der Kirche. 

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Pfarrer Dr. Anton Tikhomirov

Seit 2007 ist Pfarrer Dr. Anton Tikhomirov Rektor am Theologischen Seminar der Evangelisch-Lutherischen Kirche Russlands und seit Juni 2022 stellvertretender Erzbischof der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Russland (ELKR). Foto: ELM

„Wir sind gezwungen, eigenständiger zu werden“ 

„Wir versuchen in unserem Seminar vernünftige Theologie zu betreiben in einem Kontext von ständig neuen kirchlichen, wirtschaftlichen und politischen Wirren und Herausforderungen“, sagte Pfr. Dr. Anton Tikhomirov über seine Arbeit am Theologischen Seminar der Evangelisch-Lutherischen Kirche Russlands in St. Petersburg, Russland. „Heutzutage gehört die Notwendigkeit dazu, Brücken über Feindseligkeiten hinweg zu bauen. Das gute theologische Gespräch soll ein offenes, scharfes aber auch ein versöhnendes Gespräch sein.“ 

Seit 2007 ist Tikhomirov Rektor des Seminars und seit Juni 2022 stellvertretender Erzbischof der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Russland (ELKR). Bei einem Besuch bei Partnern in Deutschland, zu denen das Evangelisch-lutherische Missionswerk in Niedersachsen (ELM) gehört, berichtete er über den aktuellen Stand der theologischen Ausbildung und die Situation der lutherischen Kirche in seinem Land. 

Theologische Ausbildung online 

Aktuell studieren 40 Personen am Theologischen Seminar; etwa ein Drittel sind Frauen. Sie kommen aus verschiedenen Ländern der ehemaligen Sowjetunion: Russland, Georgien, Belarus, Moldawien, Kasachstan und vier auch aus der Ukraine. „Theologie kann verbinden“, ist Tikhomirov überzeugt. 

Die Ausbildung von Pfarrerinnen und Pfarrern findet seit 2019 online statt. „Unsere Studierenden sind oft mit ihren Wohnorten fest verbunden oder arbeiten dort meist auch. Ein Online-Studium und die Möglichkeit, das Tempo des Studiums mitzubestimmen, kommt ihnen entgegen“, so Tikhomirov. Das Dozententeam ist international und interkonfessionell; Unterrichtssprache ist überwiegend Russisch. Tikhomirov reist regelmäßig in verschiedene Regionen, wo dann vor Ort Treffen und Seminare mit Studierenden stattfinden. 

Der Studiengang ist als dreijähriger Bachelorstudiengang konzipiert, der allerdings nur innerhalb des Bundes der Evangelisch-Lutherischen Kirchen in Russland und anderen Staaten anerkannt ist. „Wir streben ein staatlich anerkanntes Studium an, aber das gestaltet sich schwierig“, berichtet Tikhomirov. Das liege unter anderem an den Beziehungen der verschiedenen Konfessionen untereinander und deren jeweilige Anerkennung und Einordnung durch staatliche Stellen. 

Aktuelle Situation der Kirche 

Lutherische Christinnen und Christen sind in Russland mit etwa 20.000 Mitgliedern, die sich in dem flächenmäßig größten Staat der Welt über ein riesiges Gebiet verteilen, eine winzig kleine Minderheit. „Momentan bemühen wir uns darum, die Kirche zu stabilisieren“, sagte der stellvertretende Erzbischof, und die Zusammenarbeit zwischen den beiden Teilkirchen der ELKR, der Evangelisch-Lutherischen Kirche Europäisches Russland (ELKER) und der Evangelisch-Lutherischen Kirche Ural Sibirien Ferner Osten (ELKUSFO) zu stärken. 

Nach dem Beginn des Angriffskrieges Russlands auf die Ukraine hatte der damalige Erzbischof Dietrich Brauer im März 2022 das Land verlassen und von seinem Amt zurückgetreten. Im Oktober 2022 wurde Andrei Dschamgarow zum Bischof der ELKER gewählt und am 6. November 2022 zusammen mit ELKR-Erzbischof Wladimir Proworow in den Dienst eingeführt. Nach nur kurzer Amtszeit starb Dschamgarow unerwartet am 9. Februar 2023. So wurde Sergei Goltsvert im schon im Oktober 2023 zum neuen Bischof gewählt, und Tikhomirov wurde der Stellvertreter von Proworow. 

Eine vorrangige Aufgabe der Kirchenleitenden sei es nun „die Lage zu beruhigen“ und von „politischen Handlungen abzuraten“, so Tikhomirov. 

„Wir haben einen großen Mangel an Pastorinnen und Pastoren“, sagte Tikhomirov. Die Kirchenleitung sorge sich besonders über die pfarramtliche Versorgung in den ländlichen Gemeinden. Viele Pfarrpersonen arbeiteten im Nebenamt. Zusätzlich zu ihrem pastoralen Dienst in den Kirchengemeinden gingen sie einem anderen Beruf nach, um ihren Lebensunterhalt zu sichern. 

In den großen Städten wie Moskau oder St. Petersburg können Kirchengemeinden die öffentliche Sichtbarkeit ihrer repräsentativen Gebäude nutzen, um Finanzen für die Gemeinde zu generieren. „Die Kathedrale St. Peter und Paul in Moskau wird beispielsweise oft für kulturelle Veranstaltungen vermietet. Wir haben dort auch eine gute Orgel; und entsprechende Konzerte werden gut besucht“, berichtet Tikhomirov. 

„Maßnahmen wie die westlichen Sanktionen gegen Russland machen es uns schwierig oder unmöglich, Gelder aus dem Ausland zu erhalten“, sagte Tikhomirov. „Das betrifft auch die Unterstützung, die wir von Partnerkirchen und -organisationen erhalten haben. Das zwingt unsere Kirche dazu, unabhängiger zu werden.“ Diese Aufgabe sei nicht leicht. 

Eine weitere allgemeine Herausforderung sah Tikhomirov darin, auf aktuelle Entwicklungen zu reagieren. Traditionell seien die Entscheidungswege in Kirchen und ihren Leitungsgremien sehr lang und beratungsintensiv. Aber „wir müssen schneller werden“, ist Tikhomirov überzeugt. Kirchenleitende müssten in der Lage sein, Entwicklungen wahrzunehmen und entsprechend darauf zu reagieren. Das werde für das Wohl und den Erhalt der Kirche in Zukunft immer wichtiger. 

LWB/A. Weyermüller