Die Bibelwissenschaftler Sarah Hinlicky Wilson in Tokyo und Jean Koulagna in Rabat diskutieren über die Herausforderungen bei der Bibelübersetzung und warum es wichtig ist, das Wort Gottes auch weiterhin den Menschen in verschiedenen Sprachen und Kulturen zugänglich zu machen.
Jubiläum von Martin Luthers Septembertestament
(LWI) - Welchen Einfluss hatte Martin Luthers Übersetzung des Neuen Testaments im Jahr 1522 auf die Kultur und die Menschen seiner Zeit? Was sind die Hauptherausforderungen, um den griechischen Text aus dem ersten Jahrhundert für ein Publikum des 21. Jahrhunderts verständlich und relevant zu machen? Und warum ist es wichtig, die Bibel auch heute noch allen Menschen in verschiedenen Sprachen und Kulturkreisen zugänglich zu machen?
Diese Fragen standen im Zentrum einer neuen Webinar-Reihe, die der Lutherische Weltbund (LWB) diese Woche anlässlich des 500. Jahrestags von Luthers Septembertestament, seiner weithin bekannten ersten Übersetzung des Evangeliums, startete. Unter Mitwirkung von führenden Bibelwissenschaftlern und Fachleuten, die in verschiedenen Teilen der Welt tätig sind, zielt die Reihe darauf ab, sich eingehender damit zu befassen, auf welch vielfältige Weise Lutheranerinnen und Lutheraner heutzutage das Wort Gottes lesen und sich damit auseinandersetzen.
Zu Beginn der Reihe am 18. Oktober bezeichnete LWB-Generalsekretärin Anne Burghardt das Septembertestament als „eine von Luthers wichtigsten literarischen Errungenschaften“. Sie bemerkte, dass die Veröffentlichung des Neuen Testaments in deutscher Sprache den Menschen zum ersten Mal einen besseren Zugang dazu verschaffte und „sie in die Lage versetzte, es selber zu lesen und darüber nachzudenken, ebenso wie in der Kirche.“ Das, so betonte sie, spiegelt Luthers „theologische Kernüberzeugungen wider: die Heilige Schrift als Wort Gottes, Jesus als das fleischgewordene Wort und das Predigen des Evangeliums als das lebendige Wort für uns.“
In Anbetracht der Auswirkungen dieser frühen neutestamentlichen Übersetzung wies Sarah Hinlicky Wilson, nebenamtliche Pfarrerin der Lutherischen Kirche in Tokyo in der japanischen Hauptstadt und Gastprofessorin am Institut für Ökumenische Forschung in Straßburg, darauf hin, dass Luthers Fassung nicht die erste Bibelversion war, die in einer Landessprache verfasst wurde. „Er tat hier nichts gänzlich Neues“, sagte sie, „doch seine Übersetzung löste etwas aus und hatte eine Wirkmacht, die den anderen fehlte.“
Zu den Gründen für den Erfolg seines Werkes, fuhr sie fort, gehörten sein „Prominenten“-Status als reformfreudiger Theologe, seine Begabung „im Umgang mit Worten und Sprache“ sowie die Erfindung der Druckerpresse, die es einfacher machte, „das Wort zu drucken und auf eine Weise zu verteilen und zu verbreiten, die zuvor nicht möglich gewesen war.“ Trotz seiner persönlichen Leistungen, fügte sie hinzu, war Luther „kein einsamer Held“. Vielmehr war er erpicht darauf, den Erfolg seiner Arbeit zu teilen und so stellte er ein Team aus Gelehrten zusammen, um gemeinsam mit ihnen auch an einer Übersetzung des Alten Testaments zu arbeiten.
Für heutige Lutheranerinnen und Lutheraner, so Hinlicky Wilson, besteht eine der Hauptherausforderungen in der Spannung zwischen „sola scriptura“ als dem „wahrhaftigen Wort Gottes“ und der Art und Weise, wie diese Botschaft von einzelnen Personen und Glaubensgemeinschaften in den letzten zwei Jahrtausenden ausgedrückt und interpretiert wurde. Sie betonte, dass „viele Stimmen im Laufe der Jahrhunderte“ für das Schreiben und Editieren der Evangelien, die wir heute lesen, verantwortlich zeichneten. Wie für Luther zu seiner Zeit, sagte sie, bestehe unsere Herausforderung darin, „ein Gleichgewicht zu schaffen zwischen der Heiligen Schrift an sich und der Notwendigkeit, ihr die Fachkenntnisse und Begabungen, die ganze Konversation der Kirche mitzugeben und sie gegen Missbrauch zu schützen.“
Das fleischgewordene Wort, das mitten unter uns wohnte
In seiner Reflektion über die Arbeit an der Übersetzung des Evangeliums in lokale afrikanische Sprachen und Dialekte sprach Jean Koulagna, Leiter des Ökumenischen Instituts für Theologie Al Mowafaqa in der marokkanischen Hauptstadt Rabat über die fachlichen Herausforderungen, in Sprachen, die mehr auf mündlicher als auf schriftlicher Tradition beruhten, eine bedeutungsvolle Entsprechung für biblische Wörter und Ausdrücke zu finden. Eine weitere Schwierigkeit, sagte er, sei mit der Kolonialgeschichte Afrikas verknüpft, „die zu einem Verlust traditioneller Sprachen geführt hat und noch immer führt.“ Eine wesentliche Frage, die sich alle an der biblischen Übersetzungsarbeit Beteiligten stellen müssten, sagte er, sei „Wer sind meine Gesprächspartnerinnen und -partner?“
Koulagna ist sowohl Pfarrer der Evangelisch-Lutherischen Kirche von Kamerun als auch der Evangelischen Kirche von Marokko. Er hält Vorlesungen über die Sprachwissenschaft des Alten Testaments und der Bibel und arbeitet an der Übersetzung der Bibel in die Dii-Sprachen des nördlichen Kameruns. „Gott, der zu seinem Volke spricht, muss das in dessen eigener Sprache, in dessen eigenem Kontext, dessen eigener Kultur tun können“, betonte er. Wenn wir lesen „das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns“, fügte er hinzu, dann bedeute das, dass „das Wort auch in unserer Sprache gesprochen wird.“
Biblische Übersetzungen, fuhr Koulagna fort, können auch eine Renaissance von Kulturen und Sprachen anfachen und den Menschen helfen zu verstehen, dass sie „direkten Zugang zu Gott und seinem Wort haben, ohne auf kulturelle Vermittlung durch andere angewiesen zu sein.“ So wie der Apostel Petrus am Pfingsttag den Menschen mitteilte, dass „diese Verheißung des Heiligen Geistes Euch und Euren Kindern gelte“, sagte Koulagna, „macht es die Arbeit an der biblischen Übersetzung möglich, dass diese Botschaft von Gottes Liebe weiterhin die Menschen in allen Sprachen und Kulturen erreicht.“
Das Webinar wurde von Szabolcs Nagy, Doktorand an der Evangelisch-Lutherischen Theologischen Universität in Budapest, moderiert. Er wird auch die nächste Ausgabe dieser Bibeljahr-Reihe am 8. November ausrichten, bei der es um das Thema „Understanding the Bible“ (Die Bibel verstehen) geht.
Translating the Bible – a webinar on 18 October 2022
The first of four Bible year webinars focused on Translating the Bible.
Speakers:
- Host: Rev. Szabolcs Nagy