Im Interview: Daniel Ženatý, Evangelische Kirche der Böhmischen Brüder
PRAG, Tschechische Republik/GENF (LWI) – Die Tschechische Republik mit ihren rund 11 Millionen Einwohnern gilt gemeinhin als eines der atheistischsten Länder Europas. Nach formaler, institutioneller Religionszugehörigkeit gehört mehr als Zweidrittel der tschechischen Bevölkerung keiner Religionsgemeinschaft an. Die Evangelische Kirche der Böhmischen Brüder (EKBB) ist – nach der katholischen Kirche – mit ihren rund 75.000 Mitgliedern die zweitgrößte Kirche des Landes.
Im Gespräch mit der Lutherischen Welt-Information spricht Synodalsenior Daniel Ženatý über die Bedeutung der EKBB in der tschechischen Gesellschaft und wie sich die Kirche ihren Herausforderungen stellt.
Bitte stellen Sie uns Ihre Kirche und ihre Rolle in der Gesellschaft der Tschechischen Republik kurz vor.
Die EKBB basiert auf den Grundlagen des Reformators Jan Hus, der alten Brüderunität, deren letzter Bischof Jan Amos Comenius war, und auf der (lutherischen und calvinistischen) Weltreformation. Gerade durch die Vereinigung des lutherischen und des calvinistischen Zweigs wurde unsere Kirche 1918 nach dem Zusammenbruch der Habsburgermonarchie gegründet.
Unsere Kirche ist die zweitgrößte Kirche in der Tschechischen Republik und gehört zu den Kirchen, die, sich den gesellschaftlichen Herausforderungen stellen und die sich für das Geschehen in der Gesellschaft interessieren. Die Leitung der Kirche, der Synodalrat, aber auch die Synoden, äußern sich zu verschiedenen gesellschaftlichen Fragen. Zwei Beispiele: Kürzlich haben wir den tschechischen Ministerpräsidenten Andrej Babiš gebeten, dem Antrag auf Aufnahme von Kindern aus Flüchtlingslagern in Griechenland nachzukommen. Und: Wir haben eine Erklärung zur Gefahr des Missbrauchs vom Begriff der „christlichen Werte“ abgegeben.
Im Mai 2019 hat die EKBB ein Strategiepapier verabschiedet. Gab es einen besonderen Anlass für diesen Schritt?
Der Hauptgrund war eine komplette Veränderung in der Finanzierung der Kirche. Seit 1948 zahlte das kommunistische Regime die Gehälter von Pfarrern und Pfarrerinnen, um zu zeigen, dass der Staat angeblich hervorragende Bedingungen für die Kirchen schafft. Stattdessen verfolgte er aber die Kirchen, und die Gehälter lagen weit unter dem Durchschnitt.
Im Jahre 2013 kam es de facto zu einer Trennung von Kirche und Staat. Die aktuellen Gehaltssubventionen sinken von Jahr zu Jahr um 5 Prozent und werden 2030 ganz enden. Diese Entwicklung ist meiner Meinung nach gut. Jetzt liegt es an uns, die finanzielle Eigenständigkeit zu schaffen. Das hängt unter anderem davon ab, was die Kirche für uns als ihre Mitglieder bedeutet. Wir mussten also klar machen, was wir wirklich wollen, was wesentlich ist und was uns nicht so wichtig ist.
Wie sind Sie vorgegangen und wer wurde beteiligt?
Der Synodalrat hat eine 13-köpfige Kommission mit der Ausarbeitung des Strategieplans beauftragt. In der Kommission waren alle Arten von Frömmigkeit und Arbeitszweige unserer Kirche so weit wie möglich vertreten. Die Arbeit dauerte mehr als zwei Jahre. Wir wollten etwas Lebhaftes, Überschaubares schaffen – also kein langweiliges, dickes Dokument, das mit der Zeit verstaubt.
Die Arbeit begann mit der Auswahl der für das Leben der Kirche wesentlichen Punkte. Dann haben wir den aktuellen Zustand dieser Punkte beschrieben und Zielvorstellungen ausgearbeitet. Schließlich versuchten wir festzulegen, wie die gewünschten Veränderungen erreicht werden können.
Welches sind die wichtigsten Ziele, die sich Ihre Kirche bis 2030 – also in den nächsten 10 Jahren – vorgenommen hat?
Wir möchten lebendige Gemeinden aufbauen, die die spirituelle Sehnsucht in unserem Umfeld mit der christlichen Botschaft beantwortet. Hiermit eng verbunden ist die Pflege unseres Glaubens durch Gottesdienst und Katechese, durch diakonisches Handeln und durch Zeugnis ablegen.
Für alle diese Arbeitsbereiche benötigen wir Frauen und Männer, die in der Kirche und in den Gemeinden Verantwortung übernehmen – in den Ämtern des Presbyters und Kurators, des Hilfspredigers oder im Pfarramt. Hier wollen wir an den Arbeitsbedingungen in den Gemeinden, an der Aus- und Fortbildung unseres Personals und der Anwerbung junger Menschen für den kirchlichen Dienst arbeiten.
Der Übergang zur Eigenfinanzierung erfordert einen neuen Blick auf unser Leitungshandeln und die wirtschaftlichen Aspekte unserer Kirche. Wir wollen neue Finanzquellen für unsere Arbeit und unsere Mitarbeitenden erschließen und pflegen.
Inwiefern können andere Kirchen in der LWB-Region Mittel- und Osteuropa und darüber hinaus von Ihren Ansätzen und Ideen lernen und profitieren?
Kirchen in unserer Region haben ähnliche Probleme. Wenn wir das Programm oder die Beschlüsse der Synoden oder Leitungsgremien unserer Kirchen lesen, sehen wir, wie viele Aufgaben wir gemeinsam haben. Wir können gut voneinander lernen.
Fragen, die uns auch miteinander verbinden, beziehen sich auf den Anstieg von Extremismus, Intoleranz und Antisemitismus, und wie wir damit umgehen sollen. Es ist in der Tat gut, und sogar erforderlich, dass wir zusammenhalten und uns gegenseitig darüber informieren und unterstützen, wie man sich aktiv mit diesen Herausforderungen auseinandersetzen soll.
Welche Rolle spielen internationale ökumenische Partner und der Lutherische Weltbund (LWB) in Ihrem Prozess? Erleben Sie besondere Formen der Unterstützung?
Unsere Partner spielen eine wichtige Rolle. Wir treffen uns regelmäßig, wir reden miteinander, wir unterstützen uns gegenseitig. Dies durchbricht das Gefühl der Einsamkeit bei der Lösung von Problemen. Allein hätte jede Kirche Schwierigkeiten, eine Lösung zu finden. Was eine von ihren entwickelt hat, können andere übernehmen.
Wie finden Sie persönlich Ermutigung in Ihrem Glauben und in Ihrem Leitungsamt?
Ich bin immer wieder überrascht von der Kraft der Worte und Taten Jesus Christi. Wie modern und wie notwendig sie sind in der aktuellen Situation! Und zugleich: wie beunruhigend… Er kam in diese Welt mit seinen Akzenten und Interpretation des Willens Gottes. Er kam ans Kreuz. Ich sehe einerseits, die Freude an der Kraft des Evangeliums: es gibt viele gute Dinge in der Kirche und in der Gesellschaft. Andererseits stelle ich fest, dass wir auf Hindernisse und Ablehnungen stoßen werden, bis Jesus wiederkommt.
Ich halte am Glauben fest, dass Gott mich an diesen Ort gerufen hat. Obwohl ich immer noch überrascht bin, wie gut er meine Fehler und Schwächen kennt. Ich werde außerdem vom Vertrauen anderer gehalten. Und auch von der inneren Freiheit, das Amt des Synodalseniors aufgeben zu können, wenn dieses Vertrauen schwinden sollte.
Stimmen aus der Kirchengemeinschaft:
Der Lutherische Weltbund (LWB) ist eine weltweite Gemeinschaft, deren Mitglieder sich gemeinsam für das Werk und die Liebe Christi in der Welt einsetzen. In dieser Reihe präsentieren wir Kirchenleitende und Mitarbeitende, die über aktuelle Themen sprechen und Ideen entwickeln, wie Frieden und Gerechtigkeit in der Welt geschaffen werden und die Kirchen und die Gemeinschaft in ihrem Glauben und ihrem Engagement wachsen können.
- Weitere "Stimmen aus der Kirchengemeinschaft"