Anne Burghardt: Gottes Wort in einer säkularen Gesellschaft vernehmen

05 Nov. 2021
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LWB-Generalsekretärin Anne Burghardt. Foto: LWB/albin Hillert

LWB-Generalsekretärin Anne Burghardt. Foto: LWB/albin Hillert

Vorstellung der neuen LWB-Generalsekretärin

TALLINN, Estland/GENF (LWI) – Estland werde oftmals als säkularstes Land der Welt wahrgenommen, „was ich also mitbringe, ist die Erfahrung, auch in einer solch säkularen Gesellschaft an der Mission Gottes teilhaben und das Wort Gottes zu den Menschen bringen zu können“. Das sagt Pfarrerin Anne Burghardt von der Estnischen Evangelisch-Lutherischen Kirche, die ihr neues Amt als Generalsekretärin des Lutherischen Weltbundes (LWB) am 1. November angetreten hat. 

Burghardt wurde 1975 in der Zeit der sowjetischen Besatzung ihres Heimatlandes geboren und ist in einem sehr säkularisierten Umfeld aufgewachsen. Während ihre Großeltern noch sehr aktive Mitglieder der lutherischen Kirche waren, wurden ihr Vater, ihre Tante und ihre Großmutter 1949 nach Sibirien deportiert. „Viele Menschen, die so etwas erlebt haben, waren sehr sehr vorsichtig, sich nicht an irgendwas zu beteiligen, das als Untreue gegenüber dem Staat hätte ausgelegt werden können“, erzählt sie. Deshalb „hielten sie ihre Kinder von der Kirche fern.“

Erst die Einladung einer Schulfreundin, am Konfirmationsunterricht teilzunehmen, brachte sie auf den Weg hin zur Ordination – einen Weg, den sie sich ihrer eigenen Aussage zufolge nur schwer hätte vorstellen können, wenn das jemand „vor 30 Jahren zu mir gesagt hätte“. Ihre Schule war eine der wenigen Schulen in Estland, die Religionsunterricht überhaupt erlaubten, aber die Diskussionen mit ihren Klassenkameradinnen und Klassenkameraden und Freundinnen und Freunden weckten ihr Interesse an religiösen Fragen. „Wir alle suchten nach einer Identität – auf nationaler Ebene, aber in einigen Fällen auch auf persönlicher Ebene“, erinnert sie sich.

In Bezug auf ihren eigenen Glaubensweg sagt Burghart, dass manche Menschen „in einer christlichen Familie einen Weg des natürlichen Wachstums“ erleben. Die wenigsten Menschen erleben eine plötzliche Bekehrung „wie der Apostel Paulus“. Und dann gibt es den Weg, „den ich gegangen bin: das langsame Wachsen durch das Stellen vieler Fragen; aber, weil ich langsam und Schritt für Schritt vorangegangen bin, bin ich fester verwurzelt in meinem Glauben“. 2004, also genau zehn Jahre nach der Einladung der Schulfreundin zum Konfirmationsunterricht, erzählt sie, sei sie „in der St. Marien-Kirche in Tallinn [auf Estnisch: Toomkirik] zur Pfarrerin ordiniert worden, weil ich spürte, dass ich der Kirche mit den Gaben dienen wollte, die mir gegeben waren.“

 LWF/A. Hillert

In den zehn Jahren zwischen diesen beiden prägenden Ereignissen hat Burghardt an der renommierten Universität Tartu Theologie studiert und dabei auch einige Auslandssemester in Deutschland an der Humboldt-Universität zu Berlin und der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg in Bayern verbracht, wo sie auch an ihrer Promotion in orthodoxer Liturgiewissenschaft arbeitete. „Ich habe dort meine Doktorarbeit zur Bedeutung der Nachtwache in den russisch-orthodoxen Kirchen eingereicht“, sagt sie. Vor ihrer Ordination hat sie eine zweijährige praktische Ausbildung für den Pfarrberuf am Theologischen Institut der Estnischen Evangelisch-Lutherischen Kirche durchlaufen und ist seither eng mit diesem Institut verbunden.

Eine der wichtigsten Innovationen an dem Institut aus Burghardts Feder war die Entwicklung des Masterstudienprogramms „Studies in Christian Culture“ (Studium der christlichen Kultur). Es sei als eine Art „akademische Mission“ für Menschen konzipiert worden, erzählt sie, die in der säkularen Welt arbeiten, aber mehr über ihre christliche Vergangenheit und ihre christlichen Traditionen lernen wollen. Viele dieser Menschen „kennen nicht einmal die grundlegenden Begrifflichkeiten der christlichen Religion“, sagt Burghardt. „Deshalb wollten wir einen Lehrplan erstellen, der ihnen verstehen hilft, welch großen Einfluss das Christentum auf die europäische Kultur gehabt hat, und der ihnen – allgemeiner – hilft die zugrunde liegenden Einflüsse dieser Glaubenstradition zu verstehen.“

Bildung für kritisches Denken

Das Programm war von Anfang an ein großer Erfolg und konnte das Erbe des Instituts fortführen, das auch während der Sowjetzeit nicht geschlossen worden war. Burghardt betont, dass das Institut auch während der gesamten Sowjetzeit „Pfarrerinnen und Pfarrern akademisch ausbildete und damit sicherstellte, dass sie in differenzierter Art und Weise und nicht nur nach dem Schema Entweder-Oder denken lernten“. Heute wo viele Gesellschaften mit zunehmender Polarisierung zu kämpfen haben, ist es von zentraler Bedeutung, dass die Kirche dieses Schwarz-Weiß-Denken – durch die Evangeliumsverkündigung und ihre Arbeit mit Menschen – nicht unterstützt, sondern einen differenzierteren Ansatz verfolgt“.

Die Ausbildung zum kritischen Denken ist einer der Grundpfeiler in Burghardts Verständnis von der Mission der Kirche in der heutigen Gesellschaft. Sie hofft, das Netzwerk des LWB für theologische Aus- und Weiterbildung unterstützen zu können und Materialien für alle Studierenden allgemein verfügbar zu machen, die keinen „Zugang zu einer angemessenen Ausbildung und kritischem Denken“ haben. Sie wird dabei auf ihre vielfältigen Erfahrungen in der Forschung und Ausbildung in ganz unterschiedlichen Bereichen wie Konfliktlösung, HIV-Beratung und Kommunalentwicklung in benachteiligten ländlichen Regionen zurückgreifen können.

 LWF/A. Danielsson

Auch die Ökumene ist ein besonderes Fachgebiet der neuen Generalsekretärin. Fünf Jahre lang war sie im LWB-Büro der Kirchengemeinschaft in Genf als Studienreferentin für ökumenische Beziehungen tätig. In dieser Funktion betreute sie die Beziehungen des LWB zu den anglikanischen, mennonitischen, orthodoxen und pfingstkirchlichen Glaubensgemeinschaften. Und koordinierte darüber hinaus auch die Vorbereitungen für das 500. Reformationsjubiläum und die Erstellung des Materials für die LWB-Vollversammlung in Namibia 2017.

Die Gespräche über das lutherische Verständnis vom ordinierten Amt zu stärken, steht für Burghardt ebenfalls auf der Tagesordnung, denn sie will die Kirchen unterstützen, die sich dahin entwickeln, auch Frauen im ordinierten Amt und anderen Führungspositionen zuzulassen. Als erste Frau im zentralen Führungsamt des LWB sagt sie: „Ich bin überzeugt, dass sich Frauen in vielen Regionen der Welt und in vielen Kirchen durch dieses Vorbild gestärkt und ermutigt fühlen.“ 

 LWF/A. Hillert

Neben ihren Funktionen in jüngster Vergangenheit als Leiterin der Abteilung für Entwicklung am Theologischen Institut und Beraterin der Kirche für internationale und ökumenische Beziehungen war Burghardt auch als Pastorin im Kirchenkreis Lääne-Harju und dort insbesondere in zwei Gemeinden in der Nähe von Tallinn tätig. Die eine der beiden Gemeinden ist eine kleine Gemeinde auf dem ehemaligen Militärstützpunkt Paldiski; die andere eine prosperierende Gemeinde in der Stadt Keila, wo ihr Mann, Pfr. Matthias Burghardt, als hauptamtlicher Gemeindepfarrer tätig ist. 

Das Ehepaar Burghardt hat zwei Kinder (17 und 10 Jahre) und ein gutes Netzwerk aus Familie und Freunden, die, so sagt die neue LWB-Generalsekretärin, eine unschätzbare Hilfe gewesen seien, „das logistische Puzzle“ ihres Umzugs nach Genf zu handeln. Ihr drittes Kind Johannes, den sie als ehemaligen palästinensischen Flüchtling in ihre Familie aufgenommen hatten, lebt heute in Deutschland und hat eine sechsjährige Tochter.

 LWF/A. Hillert

Die Unterstützung der Familie ist für Burghardt von Anfang an ein großer Segen und eine große Hilfe gewesen. Obwohl sie selbst nicht in der Kirche aufgewachsen sei, erinnert sie sich, hätten ihre Eltern ihr „viel Raum für meine eigenen Entscheidungen gelassen“, auch für die unerwartete Entscheidung, Theologie studieren zu wollen. Bis heute erinnert sie sich ganz genau an die Worte ihres Vaters, als sie ihren Eltern erzählte, dass sie Pastorin werden wollte: „Das ist kein Erbe, an dem ich in meinem Leben teilhaben konnte, aber ich weiß, dass deine Großeltern außer sich sein würden vor Freude, wenn sie diesen Tag und diese Entscheidung hätten miterleben können.“ Und heute freut sich auch die weltweite Gemeinschaft lutherischer Kirchen über diese Entscheidung.

Von LWB/P. Hitchen. Deutsche Übersetzung: Andrea Hellfritz

 

LWF/OCS