Wie können wir geschlechtsspezifischer Gewalt ein Ende setzen und wie können wir zu einer gendergerechteren Kirchengemeinschaft werden? Diese Fragen wurden auf der jüngsten Tagung des Netzwerks für Gendergerechtigkeit und Empowerment von Frauen in Mittel- und Westeuropa thematisiert.
LWB-Frauennetzwerk in Mittel- und Westeuropa diskutiert Folgen geschlechtsspezifischer Gewalt
(LWI) – „Theologische Herausforderungen angesichts von sexualisierter Gewalt“ war der Titel des Hauptreferats von Pfarrerin Dr. Elke Seifert bei der Tagung des Netzwerks für Gendergerechtigkeit und Empowerment von Frauen in Mittel- und Westeuropa.
„Es ist die Aufgabe der (christlichen) Gemeinschaft, den Betroffenen ein möglichst hohes Maß an Sicherheitserleben zu ermöglichen, möglichst sichere Bindungen anzubieten und ihn auf seiner Suche nach Gott zu begleiten – vorausgesetzt, Betroffene wollen nach Gott suchen“, so Seifert. Sie wies jedoch darauf hin, dass auf dem Weg dorthin mehrere theologische, seelsorgerliche und therapeutische Herausforderungen zu bewältigen sind.
Schuld und Scham
„Opfer von Gewalt fühlen sich oft schuldig,“ sagte Seifert. „Das gilt besonders für Opfer von sexualisierter Gewalt. Mit ‚objektiver Schuld‘ oder ‚Realschuld‘ hat dieses Gefühl nichts zu tun, denn die Verantwortung für die Tat trägt der Täter allein. Aber trotzdem ist dieses Schuldgefühl da.“
Selbstbeschuldigungen der Opfer könnten Teil ihrer Überlebensstrategie sein. Der vermeintlichen Logik einer Katastrophe zu folgen sei ein Versuch sie zu verhindern. Diese Illusion könne die Wirklichkeit erträglicher machen.
„Wenn Sie einmal darauf achten, wie in kirchlicher Verkündigung von Schuld gesprochen wird, dann werden sie feststellen: Es ist selten bis gar nicht davon die Rede, dass es Schuldgefühle gibt, die nicht berechtigt sind,“ hat Seifert beobachtet. „Es wird in der Regel darauf hingewirkt, uns bewusst zu machen, dass wir Schuld auf uns laden und dies erkennen sollten. Diese Erkenntnis ist die Voraussetzung, um das Heilshandeln Gottes durch Jesus Christus zu verstehen und zu würdigen.“ Die „Erlösung vom Bösen“ und die „Erlösung und Aufhebung von Schuld“ gehörten eng zusammen. Seifert führte aus, dass sich Opfer von sexualisierter Gewalt sich schlecht und erlösungsbedürftig fühlen. „Aber eben nicht, weil sie etwas falsch gemacht haben. Eine andere Erlösung ist hier gefragt als die üblich in unseren theologischen Mustern.“
Opfer sexualisierter Gewalt fühlen sich oft „beschmutzt und unwert“ – auch vor Gott. „Um die Schamgefühle zu reduzieren oder vielleicht auch hinter sich zu lassen, kann es Menschen helfen, die eigene Schönheit und Gottesebenbildlichkeit (wieder) zu entdecken,“ so Seifert.
Eine sichere Gemeinschaft
Daher sei es „die Aufgabe der christlichen Gemeinschaft, den Betroffenen ein möglichst hohes Maß an Sicherheitserleben zu ermöglichen“, sagte Seifert, „möglichst sichere Bindungen anzubieten und ihn auf seiner Suche nach Gott zu begleiten – vorausgesetzt, Betroffene wollen nach Gott suchen und haben sich nicht enttäuscht abgewandt.“
„Ein Gott, der von ferne und distanziert auf den leidenden Menschen schaut, ist für Leidende wenig hilfreich“, so Seifert. „Anders ist es mit einem Gott, der sich vom Leid der Menschen berühren lässt, mit ihnen trauert, mit ihnen weint.“
„Ich halte es jedoch für die Aufgabe Gottes, erfahrbar zu machen, dass er solidarisch und unterstützend auf der Seite der Leidenden zu finden ist“, so Seifert.
Seifert hat beobachtet, dass die meisten Trauma-Opfer das Gefühl kennen, irgendwie „anders zu sein“, „unverbunden zu sein“, unverstanden und deshalb allein vor sich hin leben zu müssen. „Entsprechend ist die Sehnsucht nach Beziehung und Wieder-Verbunden-Sein groß.“
„In ihrer Spiritualität ersetzen manche Betroffene personale Gottesbilder nun lieber durch Abstrakta: Gott als Lebenskraft, Gott als (heilsames) Licht (am Ende des Tunnels), Gott als (Kraft-)Quelle usw.“
Seifert sagte, dass sie „die Dominanz personaler männlicher Gottesbilder“ und „ein ausgeprägter Christozentrismus vielen Betroffenen den Zugang zu den Kraftquellen christlicher Religion so erschweren.“ Dabei sehe sie „in unserer biblischen Tradition Anknüpfungspunkte für Menschen, denen personale Zugänge zum Göttlichen erschwert sind.“ Diese Schätze der Bibel müssten gehoben werden.
LWB-Frauennetzwerk in Mittel- und Westeuropa
Seiferts Referat war Teil der Konsultation des Frauennetzwerks des Lutherischen Weltbundes (LWB) in Mittel- und Westeuropa. Mitglieder aus Österreich, Frankreich, Deutschland, Italien und den Niederlanden trafen sich vom 25. bis 28. Oktober in Wittenberg zum Thema „Geschlechterbeziehungen und Theologie im Kontext sexualisierter Gewalt in der Kirche“.
„Wir wollten Machtbeziehungen und Abhängigkeiten analysieren und kritisch über Auslegungstraditionen in den lutherischen Kirchen nachdenken“, sagte Kathrin Wallrabe von der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens (Deutschland) die das Netzwerk koordiniert. „Wir haben uns auch mit den Vorbereitungen für die Dreizehnte Vollversammlung im nächsten Jahr befasst, den Stand der Dinge überprüft und weitere Wege zu einer gendergerechten Kirchengemeinschaft aufgezeigt.“
Die 16 Aktionstage zur Beendigung von Gewalt gegen Frauen und Mädchen sind eine internationale Sensibilisierungskampagne, die jedes Jahr vom 25. November, dem Internationalen Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen, bis zum 10. Dezember, dem Internationalen Tag der Menschenrechte, stattfindet. Der LWB arbeitet mit ökumenischen und anderen Partnern zusammen, um dieses Ziel zu erreichen, und ermutigt seine Mitgliedskirchen und Länderprogramme in aller Welt, sich kreativ an der Kampagne zu beteiligen.