Tschechische Republik: Alena Fendrychová über Konvivenz und Klischees
PRAG, Tschechische Republik/GENF (LWI) – Alena Fendrychová, Sozialarbeiterin der Evangelischen Kirche der Böhmischen Brüder, arbeite in einem Land mit „nur sehr wenigen Geflüchteten und Menschen mit Migrationshintergrund“, aber mit dem Narrativ, dass diese eine Bedrohung für die Gesellschaft darstellen. Im Interview spricht sie über Konvivenz – die Kunst und Praxis des Zusammenlebens – und ihren Beitrag, Klischees aufzubrechen.
Fendrychová ist Mitglied der „Solidaritätsgruppe“, die aus Diakoniefachleuten der europäischen Mitgliedskirchen des Lutherischen Weltbund (LWB) besteht. Sie koordinieren den Diakonieprozess „Konvivenz schaffen“, der 2010 in der Region angestoßen wurde.
In diesem Interview spricht sie über das Café Obýváček, dessen Arbeit in einem der vier Hefte dargestellt wird, in denen die jüngsten Ergebnisse des Europäischen Diakonieprozesses des LWB beschrieben werden.
Wo liegt das Café Obýváček?
Dieses „Wohnzimmer“, auf Tschechisch Obýváček, liegt im Viertel Žižkov der Hauptstadt Prag. Das Café ist ein großer gemütlicher Raum, der leicht erreichbar im Erdgeschoss eines Gebäudes der Kirche liegt. Es nahm 2017 seine Arbeit auf.
Was ist das Besondere an diesem Ort?
Zunächst ist es ein Ort, an dem alle willkommen sind. Jeden Mittwochnachmittag finden Treffen statt. Ziel ist es, Beziehungen zwischen den Menschen vor Ort und den Geflüchteten und den Menschen mit Migrationshintergrund aufzubauen, die nur wenige Möglichkeiten zu formlosen Treffen haben. Das Café ist Teil der diakonischen Arbeit der Evangelischen Kirche der Böhmischen Brüder. Ehrenamtliche unterstützen uns bei der täglichen Arbeit.
Leider hört die Tschechische Republik jedoch immer noch meist negative Geschichten und Kommentare über Menschen mit Migrationshintergrund und Geflüchtete, was sich in den Beziehungen zwischen Einheimischen und Fremden widerspiegelt. Tschechien ist eine Gesellschaft, die tief gespalten ist, wenn es um die Aufnahme sowohl von Geflüchteten als auch von Menschen mit Migrationshintergrund geht. Wie in anderen europäischen Ländern missbrauchen Politikerinnen und Politiker sowie politische Parteien dieses Thema, um in der Öffentlichkeit Angst und Ablehnung zu wecken. Allerdings stellt sich die Situation hier ganz anders dar. Die Anzahl der neu ankommenden Flüchtlinge ist seit vielen Jahren sehr gering. 2018 registrierte das Land beispielsweise nur sehr wenige Geflüchtete und Menschen mit Migrationshintergrund. Von 1.702 Asylsuchenden wurde 165 internationaler Schutz (UNHCR) gewährt.
In einem Land mit 10,6 Millionen Einwohnern haben die meisten Tschechinnen und Tschechen so nur wenig Gelegenheit, Geflüchtete oder andere Einwandernde zu treffen. Da ihnen die Erfahrung im Umgang mit Menschen anderer Kultur, Sprache oder Religion fehlt, sind sie wahrscheinlich eher bereit, einem Großteil der Falschinformationen und Fake News zu glauben, die in der Öffentlichkeit einschließlich der Medien kursieren. Misstrauen und oft auch Hass richten sich meistens gegen Muslime, wobei die Mehrheit der tschechischen Bevölkerung noch nie bewusst eine Muslimin oder einen Muslim getroffen hat. Andererseits stellen soziale Isolation und fehlende Beteiligung am Gemeinschaftsleben eine Gefahr für Flüchtlinge und Menschen mit Migrationshintergrund dar.
Wie werden die Treffen im Café organisiert?
Wir treffen uns jeden Mittwochnachmittag. Das Programm dreht sich um Themen des täglichen Lebens, um eine Verbindung zwischen den verschiedenen Menschen zu schaffen unabhängig von ihrer Nationalität, ihrem Alter, ihrer Religion, ihrer Kultur usw. Meistens sprechen wir Tschechisch. Wir ermutigen Menschen ihre Erlebnisse zu teilen, über die Ausbildung in ihrem Land, ihre Kindheit und Familien, wichtige kulturelle und religiöse Praktiken und Zeremonien usw. Wir versuchen politische Themen zu vermeiden, und wenn sie doch hochkommen, zeigen wir, wie man maßvoll damit umgehen kann.
An religiösen Feiertagen, sowohl christlichen als auch muslimischen, haben Teilnehmende die Möglichkeit ihren Glauben vorzustellen, was wir gemeinsam haben, die Ähnlichkeiten und die Unterschiede. Außerdem können wir im Sommer unsere Zeit in einem wunderschönen Garten verbringen, und wir organisieren Ausflüge außerhalb der Stadt.
Bevor die Treffen aufgrund von Corona zurückgefahren wurden, besuchten ungefähr 40 Menschen das Café, von denen sechs bis zehn jede Woche kamen. Die Tschechinnen und Tschechen, die regelmäßig teilnahmen, kamen aus dem Diakoniezentrum Žižkov, anderen Prager Kirchengemeinden und aus dem Viertel. Zum Beispiel hörte ein Mann 2017 ein Radiointerview über das Café Obýváček und besucht seitdem das Café. Durchschnittlich besuchen Menschen aus 12 Ländern das Café.
In welchem Zusammenhang steht das Café Obýváček zu Ihrer Perspektive des christlichen Glaubens?
Der Schlüssel zum Verständnis für unsere Arbeit liegt in dem Bibelvers: „Als Gott den Menschen schuf, machte er ihn nach dem Bilde Gottes.“ (1. Mose 5,1b) Dies bedeutet, dass jeder Mensch von Gott geschaffen ist, dass niemand wegen der Religionszugehörigkeit oder anderer Unterschiede diskriminiert werden sollte.
In unserer Gesellschaft fehlt die Gastfreundschaft gegenüber Geflüchteten. Viele Politiker stellen sie als Bedrohung für unsere Sicherheit dar. Einwanderinnen und Einwanderer werden normalerweise lediglich als nützliche Arbeitskräfte angesehen, die nach Hause zurückkehren sollten, sobald die Arbeit getan ist. Inspiriert durch diese Bibelstelle wollten wir einen sicheren, einladenden Ort schaffen, an dem alle willkommen sind, unabhängig von Sprache, Religion oder politischer Überzeugung. Wir halten es für besonders wichtig, Kirchenmitglieder in unsere Gruppe einzuladen, in der auch Menschen mit muslimischem Hintergrund sind.
Unsere Erfahrung in den Kirchengemeinden zeigt, dass die Meinung vieler Kirchenmitglieder über Fremde sich nicht sehr von der Meinung der Durchschnittsmenschen in der Gesellschaft unterscheidet. Viele Kirchenmitglieder, die sonst voller Mitgefühl für die Notleidenden und offen gegenüber anderen Menschen sind, dazu neigen, sich vor Muslimen zu fürchten und jeden Kontakt mit ihnen zu vermeiden. Daher war ich sehr glücklich darüber, dass wir diesen negativen Ansatz wenigsten ein bisschen durch die Organisation zahlreicher Treffen zwischen Tschechinnen und Tschechen einerseits und Neuankömmlingen andererseits im Café Obýváček verändern konnten.
Das Café sollte ein guter Ort für Menschen unterschiedlicher Glaubensüberzeugungen und Menschen ohne Glaubensüberzeugung sein, um sich zu treffen, eine gute Zeit miteinander zu haben, zu geben und zu nehmen und um Beziehungen aufzubauen. Dieses Erlebnis von Konvivenz - Essen, Gedanken und Meinungen zu teilen - könnte ihnen helfen, die anderen als Gleiche wahrzunehmen, unabhängig von dem Etikett, das ihnen aufgrund ihrer Nationalität, ihres sozialen Status oder ihrer Religion aufgedrückt wurde. Diese Erfahrung könnte auch für ihre täglichen Erlebnisse mit Vielfalt und Verschiedenheit nützlich sein.
Es sind viele persönliche Freundschaften sowohl zwischen Tschechinnen und Tschechen und Menschen mit Migrationshintergrund als auch zwischen den Menschen mit Migrationshintergrund untereinander entstanden.
Wie sind Sie zur kirchlichen Sozialarbeit gekommen?
Als ich 16 war, nahm mich mein jetziger Mann zu einer Gemeinde der Evangelischen Kirche der Böhmischen Brüder in Prag mit. Für mich war es ein seltsamer Ort, da ich aus einer atheistischen Familie komme. Aber bald wuchs ich in die Kirche hinein, und die Botschaft des Evangeliums über den Dienst an den Nächsten wurde ein wichtiger Teil meines Lebens. Ich diente 20 Jahre lang als Presbyterin in unserer Kirchengemeinde und ich habe viele gute Freunde in der Kirche.
Anfangs studierte ich nicht Sozialarbeit, sondern Musik - Klavier und Dirigieren. Bald kam das Familienleben dazu und ich beschloss, zuhause zu bleiben und mich um meine Kinder zu kümmern, bis sie in die Schule kamen. Ich ging zurück an die Universität und spezialisierte mich auf Sozial- und Pastoralarbeit. Dann startete ich eine neue Karriere in der Diakonie der Kirche und arbeitete mit Geflüchteten und Menschen mit Migrationshintergrund.
Für mich ist das Konvivenzkonzept ein ausgezeichnetes Mittel, um Abhilfe zu schaffen in einem Umfeld, in dem das Thema der Migration für politische Zwecke missbraucht wird.
Was bedeutet es für Sie, Teil des Konvivenzprozesses zu sein?
Es war sehr bereichernd, die vielen anderen Diakonieprojekte der LWB-Mitgliedskirchen in Europa zu sehen und sich von ihnen inspirieren zu lassen. Die Erfahrungen in der Solidaritätsgruppe verliehen mir den Mut, die Treffen im Café Obýváček zu organisieren, und sie eröffneten mir neue Perspektiven als Sozialarbeiterin.
Ich schätze den Schwerpunkt des Konvivenzkonzepts: dass wir Menschen, mit denen wir arbeiten nicht als Kunden behandeln, um die wir uns kümmern, sondern als Partner, von denen wir lernen können.
Seit 2010 suchen Diakoniefachleute der LWB-Mitgliedskirchen nach Möglichkeiten, die Schlüsselbedeutung der Diakonie im Verhältnis zu der immer größeren Vielfalt und der wachsenden Ungleichheit in der Gesellschaft auszudrücken. Die diakonischen Tätigkeiten zwischen den Kirchen in den drei Regionen des LWB - Mittelosteuropa, Mittelwesteuropa, Nordische Länder - bestärken weiterhin die Vielfalt; sie stellen ein offenes Angebot dar und leisten ihren Beitrag zum öffentlichen Diskurs und zur Politik.