Der lange Weg zur öffentlichen Anerkennung

05 Juli 2019
Image
Jurij Nowgorodow, Erzbischof der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Kasachstan. Foto: LWF/A. Weyermüller

Jurij Nowgorodow, Erzbischof der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Kasachstan. Foto: LWF/A. Weyermüller

Interview mit Jurij Nowgorodow, Erzbischof der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Kasachstan

Nur-Sultan, Kasachstan/Genf (LWI) – Jurij Nowgorodow ist seit 2005 Bischof einer Kirche, die einen langen Kampf um ihre Existenzberechtigung und Anerkennung in der Gesellschaft Kasachstans hinter sich hat. Glaubensstärke und Beharrungsvermögen sind zwei wichtige Eigenschaften, die diesen Weg begleiten und auch in Zukunft wichtig bleiben.

Mit der Lutherischen Welt-Information spricht der Erzbischof über seine Kirche, ökumenische Zusammenarbeit und internationale Verbundenheit.

Bitte stellen Sie uns die Evangelisch-Lutherische Kirche in Kasachstan mit ihren Besonderheiten vor.

Die meisten lutherischen Gemeinden in Kasachstan gehen zurück auf etwa eine Million ethnische Deutsche, die unter Stalin ab 1939 vor allem aus der Westukraine, dem Kaukasus und aus dem Wolgagebiet hierher deportiert und sehr unterdrückt wurden.

Versammlungen von Gläubigen waren streng verboten. Sie trafen sich dennoch heimlich im Untergrund, vor allem in privaten Häusern. Erst in den 1950er- und 60er-Jahren ließ der Druck auf religiöse Gemeinschaften langsam nach.

Die Gemeinden versammelten sich in Bethäusern. Das waren meist Privatwohnungen oder Häuser, die nach und nach umgebaut wurden, um das Leben der Gemeinde zu beherbergen. Unsere Gesellschaft aber erwartet sichtbare Orte. Und weil unsere Versammlungsorte oft nicht sichtbar waren, wurden wir als „deutsche Sekte“ verschrien.

Erst im Jahr 2000 wurde die lutherische Kirche vom kasachischen Staat als traditionelle Religion – also als eine Religion, die mit der Geschichte des Landes verbunden ist – anerkannt. Seit 2017 haben wir in der Hauptstadt Nursultan auch endlich ein Gebäude, das als Kirche geplant und gebaut wurde. Das war für uns ein großer und wichtiger Schritt, um in der Gesellschaft wahrgenommen zu werden.

Ein anderer Schritt zur Öffnung in die Gesellschaft, den wir 1993 gegangen sind, war die Entscheidung, unsere Gottesdienste in russischer Sprache abzuhalten. Ich bin der Meinung, dass diese Entscheidung 20 Jahre zu spät kam. Bis dahin fanden unsere Versammlungen in deutscher Sprache statt, was zur Abkapselung beitrug. Durch diese Entscheidung wurde die Kirche aus einer mononationalen, abgeschlossenen Kirche zu einer christlichen multinationalen Kirche, die der Gesellschaft gegenüber offensteht und zum Dialog und zur Zusammenarbeit mit anderen Kirchen und der Gesellschaft bereit ist.

Dadurch, dass in den 1990er-Jahren nach der Unabhängigkeit Kasachstans viele unserer Gemeindemitglieder ausgewandert sind, schrumpften unsere Gemeinden sehr stark. Die Wege zu den einzelnen Gemeinden sind in unserem großen Land sehr, sehr weit, und die Gemeinden sind oft klein. Aber jede Gemeinde hat eine Leitung vor Ort – oft sind das Frauen. Und in jeder Gemeinde findet an jedem Sonntag ein Gottesdienst statt! Nicht jeden Sonntag kann ein Pfarrer dort sein. Aber wenn er in einer Gemeinde ist, bespricht er mit der Gemeindeleitung, wie der Predigtplan bis zu seinem nächsten Besuch aussehen soll und so erhalten wir Gottesdienst und Gemeindeleben schon jahrelang aufrecht.

Die neueste Entwicklung ist eine Vereinbarung, die die lutherische, die römisch-katholische und die russisch-orthodoxe Kirche in Kasachstan unterzeichnet haben. Was hat es mit diesem Dokument auf sich?

Ich bin sehr stolz auf diese Vereinbarung, die wir am 13. Mai 2019 unterschrieben haben. Alle drei der beteiligten Kirchen sind Diaspora-Minderheitskirchen, also traditionelle christliche Kirchen in einem überwiegend muslimischen Land.

Wir verpflichten uns darin zu einem respektvollen Umgang miteinander. In keiner der drei Kirchen soll negativ über die jeweils anderen Kirchen gesprochen werden. Wir wollen uns regelmäßig treffen und unsere Zusammenarbeit vertiefen.

In unserer Gesellschaft wollen wir außerdem bei Beratungsprozessen zu staatlichen Gesetzesentwürfen mit einer Stimme sprechen.

Was bedeutet es für Ihre Kirche, zum Lutherischen Weltbund (LWB) zu gehören?

Hier vor Ort in Kasachstan stärkt es uns den Rücken, dass wir Teil einer weltumspannenden Familie sind. Es macht uns bewusst, dass wir nicht allein sind und, dass lutherische Geschwister für uns beten. Außerdem haben wir aus dem Ausland schon viel Unterstützung für unsere Gemeinden erfahren.

In unserer kasachischen Gesellschaft ist es wichtig, dass wir darauf verweisen können, Teil einer internationalen religiösen Organisation zu sein. Das schafft uns Anerkennung in den Augen des Staates.

Dankbar bin ich auch für die internationalen Dialoge, die der LWB mit Katholiken und Orthodoxen führt und dadurch zum gegenseitigen Verständnis füreinander beiträgt. Die weltweite Arbeit mit und für Flüchtlinge bedeutet uns sehr viel. Sich um die Nöte der Menschen zu kümmern, ist eine große Aufgabe für die Christen weltweit.

Ein international herausragendes Ereignis in Kasachstan ist der Kongress der Führer der Welt- und traditionellen Religionen. Wie sind Sie daran beteiligt?

Der Kongress wurde vom ehemaligen Präsidenten Kasachstans, Nursultan Nasarbajew, ins Leben gerufen und findet alle drei Jahre statt. Der Präsident wollte damit ein Zeichen setzen gegen religiösen Extremismus und die Vielfalt der Religionen in Kasachstan betonen. So habe ich 2003 zum ersten Mal an dem Kongress teilgenommen.

Seit 2003 nimmt der LWB am Kongress teil. 2003, 2006 und 2009 wurde der LWB durch den damaligen Generalsekretär Ishmael Noko repräsentiert; 2012 dann durch LWB-Generalsekretär Martin Junge, 2015 durch LWB-Präsident Munib Younan und 2018 durch LWB-Vizepräsident Urmas Viilma. Während seines Besuchs im Mai bei uns in Kasachstan hat Martin Junge mich gebeten, den LWB weiterhin im Sekretariat des Kongresses zu vertreten, was ich bereits seit 2004 sehr gern tue.

In diesem Gremium werden die Kongresse vorbereitet, was eine spannende und gleichzeitig komplizierte Aufgabe ist. Schon die Beratungen zu den internationalen Teilnehmenden machen dies deutlich: anders als in Kasachstan haben arabische Länder beispielsweise keine deutliche Trennung zwischen Staat und Religion. Und es gibt viele potentielle Empfindlichkeiten: der Präsident lädt Religionsführer ein, die aus Ländern kommen, zwischen denen politische Spannungen herrschen. Dennoch, auch wenn nicht alle Beteiligten direkt miteinander sprechen, so sind sie doch in einem Raum um einen Tisch versammelt und nehmen einander wahr. Das ist ein großer Schritt und ein wichtiges Friedenszeichen.

 

Die ELKRK gehört zum Bund der Evangelisch-Lutherischen Kirchen in Russland und anderen Staaten (ELKRAS), der dem LWB seit 1989 angehört.

 

Stimmen aus der Kirchengemeinschaft:

Der Lutherische Weltbund (LWB) ist eine weltweite Gemeinschaft, deren Mitglieder sich gemeinsam für das Werk und die Liebe Christi in der Welt einsetzen. In dieser Reihe präsentieren wir Kirchenleitende und Mitarbeitende, die über aktuelle Themen sprechen und Ideen entwickeln, wie Frieden und Gerechtigkeit in der Welt geschaffen werden und die Kirchen und die Gemeinschaft in ihrem Glauben und ihrem Engagement wachsen können.

LWF/OCS