Webinar-Referierende präsentieren alternative Narrative über Geflüchtete
GENF, Schweiz (LWI) – Religiöse Menschen hätten eine besondere Verantwortung, der Stimme von Geflüchteten und Asylsuchenden mehr Gehör zu verschaffen, weil die Politik sie immer noch als Problem sehen würden, das es zu lösen gilt, und nicht als „ein Geschenk“ und Chance für Wachstum und Weiterentwicklung.
Die lutherische Ordensschwester Karin Johansson aus Schweden weiß, wie schwierig es ist, die Meinung und Einstellung der Gesetzgebenden und Verantwortungsträgerinnen und -träger zu verändern, die über einen Umgang mit dem Zustrom von Geflüchteten in ihr Heimatland entscheiden. Seit 40 Jahren schon hat sie sich immer wieder für die inzwischen mehrere tausend Menschen und Familien eingesetzt, die vor der Tür des Alsike-Klosters in der Nähe von Uppsala gestanden haben, in dem sie zusammen mit ihren Ordensschwestern und zwei weiteren Frauen lebt, die sich auf das Leben im Orden vorbereiten.
Das Alsike-Kloster wurde von Marianne Nordström gegründet, der ersten Ordensschwester Schwedens seit der Reformation. Sie hatte ihr Gelübde 1954 abgelegt und das Kloster zehn Jahre später in einem alten Schulgebäude aufgebaut. Als die Quäker vor Ort in den 1970er Jahren anfragten, ob die Ordensschwestern bereit wären, einige Familien bei sich aufzunehmen, die einen Asylantrag gestellt hätten, öffneten die Schwestern ihre Türen und nahmen diese hilfsbedürftigen „Gäste“ mit offenen Armen bei sich auf. Bei den örtlichen Behörden und der Polizei vor Ort war die kleine Ordensgemeinschaft schnell bekannt, und sie wurde mehrfach nach solchen „illegalen“ Einwanderinnen und Einwanderern durchsucht.
Zentrale Rolle von FBOs beim Schutz von Flüchtlingen
Als in den 1980er Jahren mehrere Asylsuchende im Anschluss an eine solche Durchsuchung in ihre Heimatländer abgeschoben wurden, erstritten die Ordensschwestern an den europäischen Gerichten für die Abgeschobenen das Recht, nach Schweden zurückzukehren. Seitdem hat sich Johansson intensiv mit dem Flüchtlingsrecht auseinandergesetzt und mit dem Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR) zusammengearbeitet. Gleichzeitig haben jeweils bis zu 60 Menschen in ihrem Kloster einen sicheren Ort zum Leben gefunden und wurden mit offenen Armen empfangen.
Johansson berichtete über all das im Rahmen eines Webinars in einer Podiumsdiskussion über den Globalen Pakt für Flüchtlinge (GPF) und die Rolle von Organisationen, die aus dem Glauben heraus handeln (FBOs) und Flüchtlinge schützen. Die Veranstaltung am 9. Februar hatte der Lutherische Weltbund (LWB) zusammen mit der Hebrew Immigrant Aid Society (HIAS), Islamic Relief Worldwide (IRW), dem Rat der Quäker für europäische Angelegenheiten (QCEU) und anderen Gruppen, die sich aus dem Glauben heraus für Geflüchtete und das Thema Migration engagieren, organisiert und ausgerichtet. Die Ergebnisse der Veranstaltung werden in die Planungen für eine im März 2022 geplante internationale Konferenz in Genf einfließen, die LWB und IRW gemeinsam unter der Überschrift „Welcoming the Stranger, Shaping the Future“ (Fremde gastfreundlich aufnehmen, Zukunft gestalten) organisieren.
Ein weiterer Teilnehmer der Podiumsdiskussion war der mexikanische katholische Priester Reynaldo Rodrigo Roman Diaz, ein Missionar der Gesellschaft des Göttlichen Wortes (SVD). Er leitet im norditalienischen Bistum Vicenza ein Patenschaftsprogramm für Geflüchtete. Sein Team arbeitet in den Ortsgemeinden vor Ort, um die Menschen für die Bedürfnisse von Migrantinnen und Migranten zu sensibilisieren und die Arbeit der freiwilligen Helferinnen und Helfer zu organisieren, die ein oder zwei Jahre lang Flüchtlinge bei sich aufnehmen oder andere Hilfe leisten.
Polarisierung bekämpfen und Integration fördern
Im vergangenen Jahr umfasste die Unterstützung für die Geflüchteten unter anderem, dass alle Verordnungen und Empfehlungen der Regierung zur Bekämpfung der COVID-19-Pandemie in ihre verschiedenen Muttersprachen übersetzt wurden. Genau wie Johansson versteht Roman es als vorrangige und wichtigste Aufgaben von FBOs, die Würde der Geflüchteten und Asylsuchenden zu bewahren, es den Menschen vor Ort, die die Geflüchteten bei sich aufnehmen, zu ermöglichen, die Stimmen der Migrantinnen und Migranten zu hören und sie „als Quelle der Freude“ wahrzunehmen.
Die dritte Podiumsteilnehmerin war Nejra Kadic Meskic, Leiterin des Zentrums für Kulturellen Dialog und Mitarbeiterin bei der Islamischen Gesellschaft von Kroatien. Das Zentrum engagiert sich gegen Misstrauen und Polarisierung zwischen Immigrierten und der lokalen Bevölkerung, indem es interkulturellen und interreligiösen Dialog fördert. In Zusammenarbeit mit der Regierung, anderen Glaubensgemeinschaften, verschiedenen Unternehmen und zivilgesellschaftlichen Gruppen will das Projekt „Neue Nachbarn“ des Zentrums das Narrativ über Immigration in den Medien verändern und Möglichkeiten für Integration durch Sport-, Kunst- und andere kulturelle Angebote schaffen.
Moderatorin der Diskussionsrunde war Anila Noor, Mitbegründerin des Netzwerks „Global Independent Refugee Women Leaders“ (GIRWL) und Leiterin von „New Women Connectors“, einer Bewegung, die versucht „den ungehörten Stimmen von Migrantinnen und geflüchteten Frauen in Europa in der breiten Bevölkerung Gehör zu verschaffen“. Sie war eine der wenigen Geflüchteten, die am ersten Globalen Flüchtlingsforum teilgenommen haben, das im Dezember 2019 in Genf mit dem Ziel veranstaltet wurde, konkrete Zusagen für die Umsetzung des Globalen Pakts für Flüchtlinge zu erhalten. Es ist ihr schmerzlich bewusst, wie klein die Lobby ist, die Menschen wie sie in den Mitgliedsstaaten und Institutionen der Europäischen Union haben.
Die Teilnehmenden der Podiumsdiskussion hoben hervor, dass Glaubensgemeinschaften jenen Menschen, die vor Konflikten, Verfolgung und anderem Elend in ihren Heimatländern fliehen, sehr viel mehr böten als nur Essen, ein Dach über dem Kopf und andere Dinge des täglichen Bedarfs. „Es geht nicht nur darum, sich dafür einzusetzen, dass diese Menschen den notwendigen Status erlangen, um in Schweden bleiben zu können“, sagte Johansson. „Vielmehr müssen wir uns auch die Zeit nehmen, ihnen zu zeigen, dass sie willkommen sind.“ Die Ordensschwestern, erzählt sie weiter, „haben in den Jahren viel gelernt – vor allem, dass wir alle Menschen sind und wir alle gleichermaßen frei sein und uns geliebt fühlen wollen“.
Gläubige Menschen müssten „die Wahrheit aussprechen“ und Politikerinnen und Politiker daran erinnern, „dass wir alle Menschen sind“, sagte sie. Während Schweden aktuell die Zahl der Flüchtlinge reduziert, die aufgenommen werden, und seine Einwanderungsgesetze überarbeitet, sagt Johansson, sie werde sich weiterhin „engagiert dafür einsetzen, dass jeder Einzelfall geprüft und nicht einfach als Zahl betrachtet wird“.
Es sei wichtig, zu zeigen, dass jeder Einzelfall „wirklich eine Katastrophe ist und dass jeder Mensch das Recht hat, Asyl zu beantragen“, sagt sie. Und vor allem, so sagt sie abschließend, sei es von zentraler Bedeutung, den Menschen zu helfen, „die Stimme der Geflüchteten und Asylsuchenden zu hören und sie nicht als Problem zu betrachten, sondern als Herausforderung und Chance für unsere Gesellschaften, denn jeder und jede hat etwas zu geben“.