Lutherische Führungspersönlichkeiten rufen anlässlich des Olavsfests zur Versöhnung auf
Der Präsident des Lutherischen Weltbundes (LWB), Bischof Dr. Munib A. Younan, hat Norwegen für seinen Umgang mit dem Horror und Leid nach dem tödlichen Anschlag auf Regierungsgebäude in Oslo und dem Massaker von Utøya am 22. Juli 2011 als Symbol der Hoffnung und Inspiration gewürdigt.
Younan, der Bischof der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Jordanien und im Heiligen Land, hielt eine Ansprache anlässlich des Olavsfests, das vom 28. Juli bis 5. August, kurz nach dem ersten Jahrestag der tödlichsten Anschläge, die Norwegen seit dem Zweiten Weltkrieg erlebt hat und bei denen ein antimuslimischer Extremist 77 Menschen an zwei verschiedenen Orten tötete, stattfindet.
„In der Art und Weise, wie Sie mit dem Horror und Schmerz des 22. Juli 2011 umgegangen sind, haben Sie gezeigt, dass Sie Gewalt nicht als Mittel zur Durchsetzung gesellschaftlicher und politischer Veränderungen akzeptieren. Sie vertreten heute – in unserer geprüften, pluralistischen Welt – die Werte der sozialen Gerechtigkeit, des Multikulturalismus und der Einheit in Vielfalt“, erklärte er.
„In diesem Sinne ist Ihr Land ein Symbol der Hoffnung und eine Quelle der Inspiration auch für uns [im Nahen Osten], wo der Pluralismus noch nicht diesen Grad der Reife erreicht hat, der für den Frieden in jedem Land grundlegend ist.“
Younan nimmt – gemeinsam mit der Leitenden Bischöfin der Norwegischen Kirche und LWB-Vizepräsidentin Helga Haugland Byfuglien – an den Festtagen teil, in deren Mittelpunkt dieses Jahr die Themen Gerechtigkeit, Versöhnung und interreligiöser Dialog stehen.
In einem Interview sagte Bischöfin Byfuglien, dass es für die Kirche wichtig gewesen sei, zu Trauer und Verlustgefühlen nach den Terroranschlägen das Wort ergreifen zu können und die biblische Lehre, dass die Finsternis das Licht nicht besiegen dürfe, in Erinnerung zu rufen.
„In Norwegen haben wir erlebt, wie sich inmitten tiefsten Schmerzes und Leids, inmitten bleiernen Schweigens, das über unseren Städten und Dörfern lag, leise Stimmen Gehör verschafften, die mit jeder weiteren Stimme lauter wurden und die wichtigen Worte ‚Liebe und Würde‘ aussprachen“, sagte Bischöfin Byfuglien.
„Die Menschen kamen zusammen, um ihren Schmerz miteinander zu teilen und das Licht leuchten zu lassen, das entsteht, wenn wir einander von Angesicht zu Angesicht begegnen. Die Kirche ist in ihrer Haltung zur Versöhnung hinterfragt worden und musste sich kritisch damit auseinandersetzen“, fügte sie hinzu.
Bischöfin Byfuglien betonte, der christliche Glaube sei nicht nur spiritueller Natur. ChristInnen hätten eine Verantwortung gegenüber der Welt und das Engagement für Gerechtigkeit stelle einen Weg dar, diese Verantwortung wahrzunehmen.
In seiner Ansprache anlässlich des Olavsfestes am 30. Juli in Trondheim erklärte Bischof Younan, dass die gute Nachricht von Gottes versöhnender Liebe in Jesus Christus immer die gleiche bleibe, aber in einer zerbrochenen Welt in jedem zeitlichen Kontext stets von Neuem aktualisiert werden müsse.
„Wenn wir uns unsere heutige Welt anschauen, dann kann das, was wir sehen, uns leicht erdrücken. Dennoch muss die Kirche – zusammen mit anderen grossen Religionen – eine prophetische Stimme für Frieden und Gerechtigkeit sein. Ich bin zuversichtlich, dass die religiösen Gemeinschaften mit ihrer Zusammenarbeit einen dauerhaften Beitrag zu den vielen grossen Herausforderungen leisten können, vor denen die menschliche Familie heute steht.“
Der LWB-Präsident unterstrich, dass die Kirche in einer von Extremismus bedrohten Welt aufgerufen sei, für gegenseitige Achtung einzutreten und eine treibende Kraft des Friedens zu sein – eines Friedens, der auf Gerechtigkeit und Versöhnung, Wahrheit und Vergebung aufbaue.
„Islam, Judentum und Christentum sind nicht das Problem; das Problem ist vielmehr, dass einzelne Anhänger dieser Religionen gegen die Kernlehren der Gottesliebe und der gegenseitigen Achtung verstossen.“
„Wenn Christen, Muslime und Juden –insbesondere ihre leitenden Vertreterinnen und Vertreter – schweigen oder zaghaft mit ansehen, wie diese Kernwerte angegriffen werden, dann lassen sie es zu, dass sie von Extremisten in Geiselhaft genommen werden, und tragen selbst zu dem Problem bei.“
„Aus diesem Grund rufe ich die Religionsverantwortlichen auf, sich mit prophetischer Stimme zu Wort zu melden. Religiöse Führungspersönlichkeiten jeder Religion und jeder ethnischen Gruppe müssen den Mut haben, sich zu erheben und ihren eigenen Extremisten zu sagen, dass jegliche Gewalt im Namen Gottes oder der Religion Blasphemie ist“, erklärte Younan.
Byfuglien betonte ihrerseits, die Kirche von Norwegen habe, obwohl sie ihren Status als Staatskirche verloren habe, einen aktiven Beitrag zu den nationalen Gedenkfeiern im Blick auf die Terroranschläge vor einem Jahr geleistet. Menschen hätten sich an die Kirche gewandt, Wegweisung gesucht und zugehört.
„Vielleicht hat die Kirche sich in ihrem Wissen bestätigt gefühlt, dass sie der Gesellschaft viel bedeutet, auch Menschen, die sich normalerweise nicht an sie wenden“, stellte sie fest.
Darüber hinaus hätte die Beileidsbekundungen, die Kirchen in aller Welt nach der Tragödie in überwältigendem Masse zum Ausdruck gebracht hätten, die Kirche in ihrem Bewusstsein gestärkt, dass sie Teil einer globalen Gemeinschaft sei. „Es hat uns daran erinnert, dass das kleine Norwegen, das in vielerlei Hinsicht als Symbol für einen friedlichen und sicheren Ort auf Erden steht, diese Gemeinschaft sowohl braucht als auch davon abhängig ist.“ (806 Wörter)