Die Arbeit von Anne Burghardt und ihrem Kollegium in Tallinn
TALLINN, Estland/GENF (LWI) – Wenn man das Theologische Institut der Estnischen Evangelisch-Lutherischen Kirche in Tallinn betritt, hat man das Gefühl, in die Vergangenheit zu reisen und die Geschehnisse wiederzuentdecken, die das Land und die Menschen dort stark geprägt haben. Es ist in einem mittelalterlichen Gebäudekomplex aus Kirche und ehemaligem Armenhaus untergebracht, der in den 1990er Jahren, kurz nachdem das Land seine Unabhängigkeit von der sowjetischen Besatzung wiedererlangt hatte, umfassend renoviert wurde.
Das Institut bietet mehr als 140 Studierenden Präsenz- und Online-Studienprogramme in den Bereichen Theologie und Geschichte, Liturgiewissenschaft und Musik, ökumenische und interreligiöse Studien sowie eine praktische Ausbildung für das Pfarramt. Viele der Studierenden, die mehrheitlich mittleren Alters sind, arbeiten bereits in ganz unterschiedlichen Berufen, haben aber festgestellt, dass Religion ihnen eine Orientierungshilfe im Alltag sein kann. Auch die neue Generalsekretärin des Lutherischen Weltbundes (LWB), Pfarrerin Anne Burghardt, hat hier ihre praktische Ausbildung für das Pfarramt durchlaufen und ist später zurückgekehrt, um zu unterrichten und als Direktorin der Abteilung für Entwicklung zu arbeiten.
Wenn man die mit dunklen Steinplatten verkleideten Flure des Instituts betritt und in Richtung Bibliothek geht, in der tausende wertvolle Bücher stehen, „kann man die Vergangenheit förmlich riechen“, sagt der geschäftsführende Rektor, Pfr. Marko Tiitus. In der angrenzenden Heilig-Geist-Kirche aus dem 13. Jahrhundert wurden nach der Reformation erstmals im Land Gottesdienste auf Estnisch gefeiert. Auch die ersten Ausgaben von Luthers Katechismus in estnischer Sprache wurden hier 1535 gedruckt. Die weiß gestrichene Außenwand der Kirche ist mit einer farbenfrohen und mit reichen Schnitzereien verzierten Uhr des bedeutenden Bildhauer- und Kunstschnitzer-Meisters des Hochbarock in Estland, Christian Ackermann, geschmückt.
Das Institut ist 1946 gegründet worden, um weiterhin theologische Ausbildungsprogramme im Land anbieten zu können, nachdem die kommunistische Regierung die Theologische Fakultät der renommierten Universität Tartu geschlossen hatte, die 300 Jahre zuvor gegründet worden war. Tiitus berichtet, dass der Dekan des neuen Instituts es damals für wichtig erachtete, „die Traditionen der Universität Tartu am Leben zu halten“. Er überzeugte daher die sowjetische Besatzungsmacht, einen Ort für theologische Ausbildung zu bewahren, „um der freien Welt zu beweisen, dass sie das Recht auf Religionsfreiheit achten“ würden.
Neben dem erklärten Ziel, neue lutherische Pfarrerinnen und Pfarrer auszubilden, so Tiitus, machte sich das Institut einen Namen als „offenes Fenster zur Welt, wo die Menschen ohne ideologischen Druck oder Zwang eine Ausbildung erhalten konnten“. Schreibende, Kunstschaffende, Menschen mit ganz unterschiedlichen Berufen, sagt er, „sind hergekommen, um zuzuhören und zu lernen, wie man Texte liest, wie man zu den eigentlichen Quellen zurückkehrt, um selbst kritisch denken zu können, und die Luft freien akademischen Denkens zu schnuppern“.
Obwohl das Institut nie geschlossen wurde, war ein Kontakt in den Westen im Wesentlichen dennoch verboten. Zu den tausenden Publikationen in den Regalen der Bibliothek zählen viele an der Schreibmaschine einzeln getippte und von Hand gebundene Bücher, die in mühevoller Kleinarbeit und im Geheimen aus dem Deutschen oder anderen Sprachen, in denen theologische Literatur frei verfügbar war, übersetzt wurden. Die Bibliothekarin Jana Lahe zeigt einige Bände mit Bibelkommentaren, die von Hand abgeschrieben und mit Anmerkungen versehen wurden, bevor sie von einem Arbeitslager in Sibirien nach Tallinn zurückgeschmuggelt wurden.
Auch heute noch bietet das Institut zwei parallele Ausbildungsstränge an: Zum einen die praktische Ausbildung für das Pfarramt in seinem Predigerseminar und zum anderen eine akademische Ausbildung für Fachleute aus anderen Berufen mit wenig oder keinerlei religiöser Vorbildung. Ein wichtiger Bestandteil dieses Engagements für die allgemeine Öffentlichkeit ist das Masterprogramm in christlicher Kultur und Geschichte, das unter Federführung von Pfarrerin Anne Burghardt bereits 2004 eingerichtet wurde. „Da Anne selbst aus einem säkular geprägten familiären Umfeld kommt“, sagt Prof. Dr. Thomas-Andreas Põder, Inhaber des Lehrstuhls für Systematische Theologie am Institut, „kann sie anderen das Schöne am Glauben und das Schöne am Evangelium sehr gut vermitteln“.
Põder und Burghardt kennen sich schon seit der Schule – Põders Vater war der lutherische Pastor, der Burghardts Konfirmationsunterricht durchführte und sie damit inspirierte, den Weg zur Ordination einzuschlagen. Bei zahlreichen Projekten haben sie eng zusammengearbeitet – von der Publikation theologischer Fachliteratur bis hin zur Teilnahme am ersten lutherisch-orthodoxen Dialog in Estland. „Sie hat eine große Leidenschaft für das Evangelium und für ihre Arbeit in der Kirche“, sagt er. „Aber sie hat auch umfangreiche Erfahrungen aus einem Umfeld, in dem die meisten Menschen nie einen Bezug zum christlichen Glauben hatten oder diesen verloren haben.“
Trotz seines ausgeprägten lutherischen Erbes, das bis in die Zeit der ersten Unabhängigkeit von 1918 bis 1940 bestand, ist Estland heute eines der säkularsten Länder der Welt. Den jüngsten Zensusdaten zufolge gehören den lutherischen und orthodoxen Kirchen zusammen weniger als ein Drittel der 1,3 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner des Landes an. „Die konkreten Zahlen sind nicht so wichtig“, sagt Põder. „Die Herausforderung ist, gemeinsam ein gutes Zeugnis für das Evangelium abzulegen.“
Eine konkrete Art und Weise, wie das versucht wird, ist der Lehrstuhl für Orthodoxe Theologie am Theologischen Institut. Er ist eines von nur sehr wenigen Beispielen für eine so hochrangige ökumenische Zusammenarbeit innerhalb einer akademischen Einrichtung. Koordiniert wird der Lehrstuhl, der seit 2014 besteht und sich bei Studierenden beider Konfessionen zunehmender Beliebtheit erfreut, von Mag. theol. Tauri Tölpt. „Es ist ein großartiges Beispiel für praktische Ökumene, dass ein lutherischer Lehrplan auch eine solche orthodoxe Spezialisierung umfasst“, sagt er. „Dadurch entstehen schon zu Ausbildungszeiten enge Freundschaften.“
Tölpt ist auch Direktor des theologischen Instituts der Estnischen Apostolisch-Orthodoxen Kirche, die zum Ökumenischen Patriarchat gehört. Die meisten orthodoxen Christinnen und Christen in Estland sind jedoch Mitglieder der Russischen Orthodoxen Kirche. Zwischen den beiden orthodoxen Glaubensgemeinschaften gibt es zwar wenig Kontakt, aber im Estnischen Kirchenrat arbeiten lutherische, orthodoxe und die Führungspersonen sieben weiterer kleinerer christlicher Konfessionen eng zusammen.
Tölpt unterstreicht, wie wichtig es für „unsere säkulare Gesellschaft ist, dass wir gemeinsam Zeugnis ablegen“, und betont, dass nur „gut ausgebildete Geistliche Antworten auf die Herausforderungen unserer Zeit geben können“. Er weist darauf hin, dass die Kirchen unterschiedliche Arten haben, sich im öffentlichen Raum zu engagieren: „Wir konzentrieren uns mehr auf das gemeinsame Erbe unserer Vorfahrinnen und Vorfahren, der Apostel und der Kirchenväter, während die lutherischen Kirchen viel offener dafür sind, sich mit politischen und ethischen Fragen auseinanderzusetzen.“ Aber er freut sich über Burghardts neue Rolle als Führungsperson im LWB: „Wir sind sehr stolz auf sie, sie vertritt uns alle“, sagt er und fügt hinzu, dass sie ja auch gerade in orthodoxer Liturgiewissenschaft promoviere. „Die größte Herausforderung für uns alle ist, unseren Glauben praktisch zu leben und greifbar zu machen, das Herz der Menschen unserer heutigen Zeit zu berühren“, sagt er abschließend.
Von LWB/P. Hitchen. Deutsche Übersetzung: Andrea Hellfritz