Interview mit Olga Navrátilová, Evangelische Kirche der Böhmischen Brüder
PRAG, Tschchien/GENF (LWI) – Welche Rolle spielt Religion in der Tschechischen Republik, einem der säkularsten Länder der Welt? Inwiefern hat die kommunistische Vergangenheitdes Landes auch heute noch einen Einfluss auf die Grundhaltung der Menschen? Warum haben Kirchenleitende in jüngster Vergangenheit immer wieder energisch an die christlichen Werte Gastfreundschaft, Solidarität und Inklusion erinnert?
Olga Navrátilová ist Mitglied der Evangelischen Kirche der Böhmischen Brüder (EKBB) und vertritt die Region Mittel- und Osteuropa im Rat des Lutherischen Weltbundes (LWB). Sie ist Dozentin für Philosophie an der Fakultät für Evangelische Theologie der Karlsuniversität Prag. Im Gespräch mit der Lutherischen Welt-Information blickt Navrátilová zurück auf die Geschichte der Kirche in ihrem Land und macht sich Gedanken darüber, wie sie auch weiterhin einen positiven Einfluss auf die Gesellschaft von heute haben kann.
Erzählen Sie uns kurz etwas über die Geschichte Ihrer Kirche.
Die EKBB wurde 1918 gegründet. Wir haben also im letzten Jahr unser hundertjähriges Bestehen gefeiert. Aber eigentlich reichen die Wurzeln der Kirche bis ins 15. Jahrhundert zur Hussitenbewegung und deren Gründer Jan Hus zurück. Rein rechtlich gesehen, hat die Kirche aber nicht immer bestanden: Nachdem unser Land unter die Herrschaft der Österreichisch-Ungarischen Monarchie kam, waren die Menschen gezwungen, katholisch zu werden. Das hatte mit dem “cuius regio, eius religio”-Prinzip (“wes’ der Fürst, des’ der Glaub”) des Augsburger Religionsfriedens von 1627 zu tun. Viele Menschen sind damals allerdings auch so genannte „Geheimprotestanten“ geworden.
Am Ende des 18. Jahrhunderts wurde ein Tolerierungsgesetz verabschiedet, dank dem diese Geheimprotestantinnen und Geheimprotestanten offen entscheiden konnten, ob sie der Lutherischen oder der reformierten Kirche angehören wollten. Die meisten Tschechischsprachigen entschieden sich für die reformierte Kirche, denn diese kannten sie am besten. Die Deutschsprachigen wählten in der Regel für die lutherische Konfession. Während des Ersten Weltkriegs wurde über eine Vereinigung aller lutherischen und reformierten Kirchen gesprochen, allerdings nur auf nationaler Ebene, so dass sich die lutherischen und reformierten Gläubigen des Landes zur EKKB zusammenschlossen.
Welche Rolle spielt Ihre Kirche in der Tschechischen Republik heute, hundert Jahre später?
Wir sind eine Minderheitenkirche. Genau genommen ist das Christentum insgesamt in der Minderheit. Die meisten Menschen nehmen an keinerlei institutionalisiertem religiösen Leben teil. Aber trotzdem glauben wir, dass wir als Kirche etwas bewegen können. In den vergangenen 30 Jahren haben wir unsere diakonische Arbeit kräftig weiterentwickelt und ausgebaut. Das ist ein wichtiger Beitrag, den wir gesellschaftlich leisten. Außerdem ist es gerade in Zeiten wie heute, in denen der politische Populismus zunimmt, wichtig, dass wir nicht an unseren Ansichten und Überzeugungen zweifeln und deutlich machen, wie die christlichen Werte ausgenutzt und missbraucht werden.
Wie verschafft die Kirche sich diesbezüglich Gehör?
Das ist nicht einfach, weil einige Kirchenleitende in der Tschechischen Republik nicht gegen die Rhetorik der populistischen Bewegungen immun sind. Statt dessen freuen sie sich darüber, dass wieder mehr über den christlichen Glauben gesprochen wird. Wir versuchen, uns selbst und unseren Schwestern und Brüdern in Erinnerung zu rufen, was die zentralen christlichen Werte mit Blick auf Solidarität, die Unterstützung von Unterdrückten, die gastfreundliche Aufnahme von Fremden und so weiter wirklich bedeuten.
Zudem versuchen wir uns in den Medien Gehör zu verschaffen. Unser Synodalrat hat jüngst eine Erklärung zu diesen Werten im Kontext der Migrationskrise veröffentlicht. Es gibt in Tschechien nicht viele Flüchtlinge, dafür aber eine großangelegte politische Kampagne gegen Migration. Die will den Menschen weismachen, dass die Flüchtlinge für das angeblich so christliche Europa eine Gefahr darstellen.
Welche Reaktionen gab es auf diese Erklärung?
Eigentlich nicht wirklich viele. Aber für mich persönlich war es wichtig, dass die Erklärung auch in meinem Namen veröffentlicht wurde.
Warum ist Ihr Land Ihrer Meinung nach so säkular?
Ein Problem ist die kommunistische Propaganda, die uns in den Schulen beigebracht wurde. Es hieß, dass der christliche Glaube nicht vereinbar sei mit wissenschaftlichen Erkenntnissen und modernem Denken. Dass er die Menschen ausnutzt, dass er veraltet und ungebildet sei. Christinnen und Christen, die offen zu ihrem Glauben standen, hatten damals Schwierigkeiten, einen Job zu finden oder Chancen auf höhere Bildung für ihre Kindern zu bekommen. Daher sind die Menschen lieber nicht mehr in die Kirche gegangen. Aber eigentlich reichen die Wurzeln noch viel tiefer. Die Ursprünge liegen in der Zeit, als wir Teil der Österreichisch-Ungarischen Monarchie waren und die katholische Kirche als Unterstützerin der österreichischen Regierung galt. Die Menschen haben sich damals generell vom Glauben entfremdet.
Was tun Sie, um diese Einstellungen zu verändern?
Wir thematisieren das in der Kirche oft und viel, denn einige kritische Stimmen sagen, dass wir uns nicht ausreichend in der Evangelisierung engagieren würden, und dass wir eine Ghetto-Mentalität hätten. Teilweise stimmt das auch. Positiv ist jedoch unser diakonisches Engagement, denn es zeigt die Kirche in einem guten Licht. Darüber hinaus ist das persönliche Zeugnis unserer Kirchenmitglieder an ihren Arbeitsstellen und in ihrem persönlichen Umfeld sehr wichtig, weil die Menschen dann sehen können, dass Christinnen und Christen keineswegs ungebildet oder dumm sind oder sich manipulieren lassen.
Erzählen Sie uns vor diesem Hintergrund doch kurz etwas über Ihren persönlichen Glaubensweg?
Ich bin nicht in der Kirche aufgewachsen. Ich stamme aus einer atheistischen, aber gebildeten Familie und hatte daher selbst mit diesem Vorurteil gegenüber dem christlichen Glauben zu kämpfen. Aber dann habe ich festgestellt, wie sehr unsere Geschichte und philosophischen Traditionen vom Christentum geprägt wurden und wie Glaube und Vernunft zusammengebracht werden können.
Wann und warum haben Sie begonnen, den Atheismus Ihrer Eltern zu hinterfragen?
Als ich 16 Jahre alt war, habe ich als Austauschschülerin ein Jahr an einer High School in Maine in den USA verbracht. Dort waren die Grundeinstellungen ganz andere als bei mir zuhause. Ich habe erlebt, dass der christliche Glaube etwas ganz Normales und Alltägliches sein kann. Und 16 ist ein Alter, in dem man beginnt, selbst nachzudenken und Fragen zu stellen. Ich habe also angefangen, Bücher über das Christentum zu lesen, und Gedichte und Romane mit christlichen Themen. So hat sich meine Meinung und Einstellung dann verändert. Ich wurde getauft, als ich fast 19 war.
Wie hat Ihre Familie darauf reagiert?
Das war nicht einfach. Insbesondere meine Mutter hatte Angst, dass sie mich verlieren würde, dass ich manipuliert werden würde. Ich glaube, sie hatte irgendwie Schuldgefühle, dass sie mich als Kind nicht genug geliebt haben könnte und dass ich diese Liebe nun an anderer Stelle suchen würde. Aber das war absolut nicht der Fall! Ich habe Jura studiert und dann auch mein Theologie-Studium begonnen. Als ich mein Jura-Studium abgeschlossen hatte, habe ich in Teilzeit bei der Kirche gearbeitet und nebenbei mein Promotionsstudium an der Theologischen Fakultät vorangetrieben. Danach habe ich neun Jahre als Juristin für die Kirche gearbeitet. Ich war zuständig für juristische Angelegenheiten und habe Ortsgemeinden juristisch beraten. Schlussendlich hat sich die Einstellung meiner Familie geändert, und sie hat mich sehr unterstützt – auch als ich mich für eine akademische Laufbahn in der Theologie entschieden habe.
Sind Sie in Ihrer Laufbahn als Frau auf Schwierigkeiten gestoßen?
Die Emanzipation ist in meiner Heimat weit fortgeschritten. Frauen dürfen seit 1918 wählen. Auch die Kommunisten haben Frauen unterstützt – allerdings nur eingeschränkt. Frauen mussten Vollzeit arbeiten und nebenbei auch den ganzen Haushalt versorgen. Diese traditionelle Rollenverteilung ändert sich jetzt, aber leider nur sehr langsam. Feministischen Vorstellungen wird in unserer Gesellschaft immer noch mit Argwohn begegnet.
Und in der Kirche?
Meine Kirche ordiniert seit 1954 Frauen. Ein Viertel unserer Geistlichen sind Frauen. Auch unter den Theologie-Studierenden gibt es Frauen und Männer. Aber gleichzeitig gibt es so gut wie keine weiblichen ordinierten Führungspersonen. Es schwer zu sagen, warum. Vielleicht, weil uns immer noch beigebracht wird, dass wir nicht zu viel für uns selbst werben sollten, da das als egoistisch angesehen wird. Vielleicht auch, weil in vielen Familien noch eine sehr traditionelle Rollenverteilung herrscht, so dass Frauen weniger Freizeit haben.
Glauben Sie, dass der LWB dabei helfen könnte, Frauen in Führungspositionen zu unterstützen?
Das Problem ist, dass es den Frauen selbst nicht wichtig ist. Aber ich glaube, dass es gut ist, darüber zu sprechen; und nach jeder LWB-Tagung erwähne ich es in meinem Bericht für unseren Synodalrat. Ich glaube nicht, dass wir in unserer Kirche Quoten einführen sollten, auch wenn ich schon verstehe, warum sie wichtig sind. Ich versuche, das Thema einfach immer wieder auf die Tagesordnung zu bringen und aufzuzeigen, warum es so wichtig ist, Frauen zu ermutigen, sich für diese Dinge zu interessieren.
Stimmen aus der Kirchengemeinschaft:
Der Lutherische Weltbund (LWB) ist eine weltweite Gemeinschaft, deren Mitglieder sich gemeinsam für das Werk und die Liebe Christi in der Welt einsetzen. In dieser Reihe präsentieren wir Kirchenleitende und Mitarbeitende, die über aktuelle Themen sprechen und Ideen entwickeln, wie Frieden und Gerechtigkeit in der Welt geschaffen werden und die Kirchen und die Gemeinschaft in ihrem Glauben und ihrem Engagement wachsen können.
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