Lutherische Kirche begleitet von HIV Betroffene und ausgegrenzte Frauen
(LWI) – Am ersten Samstag im Monat treffen sich regelmässig 40 bis 50 Personen in der Erlösergemeinde der Evangelisch-Lutherischen Kirche Kolumbiens (IELCO) in Bogotá. Oft finden sich neue Gesichter bei diesen lockeren Gesprächen über den Alltag, Probleme im Stadtviertel und über den Zweck der Gruppe selbst.
„Gemeinsam auf dem Weg“ – anfangs eine Handvoll Menschen, die sich gelegentlich trafen - wurde vor zehn Jahren initiiert. Inzwischen hat sich das Treffen zu einer starken Selbsthilfegruppe von und für Menschen in der kolumbianischen Hauptstadt entwickelt, die von HIV und AIDS betroffen sind. Dazustossen kann jede/r, die oder der möchte, unabhängig vom Geschlecht oder der Glaubenszugehörigkeit. Für viele Personen und Familien, die von HIV betroffen sind, ist das Treffen die einzige Anlaufstelle, wo Hilfe zu finden ist.
„Unser Ziel ist null Diskriminierung, was die Zugehörigkeit zur Gruppe angeht, damit wir auch das Ziel von null neuen HIV-Infektionen in unserem Umfeld erreichen“, erklärt Ros Mary Rincon, die die HIV-und-AIDS-Arbeit der IELCO koordiniert, zu den Massnahmen der Kirche im Zusammenhang mit den Zielen der weltweiten HIV-Kampagne 2011-2015.
Mit ihrer AIDS-Arbeit fördert die lutherische Kirche das Bewusstsein dafür, wie gegen neue HIV-Infektionen vorzubeugen ist, sie ermutigt von HIV Betroffene, die Achtung ihrer Würde und ihre Rechte einzufordern, und betreibt nachhaltig die Vernetzung mit lokalen und internationalen zivilgesellschaftlichen Organisationen sowie Advocacy gegenüber dem Staat.
„Die Anstrengungen der Erlösergemeinde zahlen sich aus und andere Kirchen bitten die lutherische Kirche um Unterstützung bei der Schaffung solcher Selbsthilfegruppen“, berichtet Rincon in einem Interview mit der Lutherischen Welt-Information (LWI). In Kolumbien sind nach Schätzungen 190.000 Menschen von HIV betroffen. Die Mehrheit sind Frauen in prekären Situationen, die von Armut betroffen sind, sexuelle und geschlechtsspezifische Gewalt erleiden und nur beschränkt Zugang zu medizinischer Versorgung haben, erläutert Rincon.
Sie war unter den VertreterInnen von 27 zivilgesellschaftlichen Organisationen, die bei der 56. Tagung des Ausschusses der Vereinten Nationen für die Beseitigung der Diskriminierung der Frau (CEDAW), die vom 30. September bis 18. Oktober in Genf (Schweiz) stattfand, den Schattenbericht der Nichtregierungsorganisationen (NGOs) zur Prüfung Kolumbiens vorlegten. Vor dem Hintergrund des fünf Jahrzehnte andauernden bewaffneten Bürgerkriegs, den das Land durchlitten hat, behandelt der Bericht unter dem Titel „Ein Blick auf die Frauenrechte in Kolumbien“ schwerpunktmässig die Folgen, die sexuelle und geschlechtsspezifische Gewalt für Frauen hat, sowie von HIV betroffene Menschen und ihr Recht auf Gesundheit.
Der Lutherische Weltbund (LWB) unterstützte die Teilnahme Rincons an den Sitzungen des CEDAW in Zusammenarbeit mit dem Frauenreferat der IELCO und dem Programm „Frauen in Kirche und Gesellschaft“ der Abteilung des LWB für Theologie und Öffentliches Zeugnis.
Verantwortung des Staates
Der CEDAW befragte die kolumbianische Regierung zu ihrem Umgang mit verschiedenen von ihr eingegangenen Verpflichtungen, einschliesslich der Bemühungen, Gesetze zu ändern, die aktuell erlauben, dass ärztliches Personal Frauen oder Mädchen zwangssterilisiert, die behindert oder von HIV betroffen sind.
Fortschritte seien zu verzeichnen bei der Stärkung des jeweiligen Gesetzesrahmens, so die VertreterInnen der Regierung, die allerdings einräumten, dass in Kolumbien ein hohes Mass an häuslicher und sexueller Gewalt existiere und die reproduktiven Rechte von Frauen verletzt würden.
Rincon begrüsst den vom Ausschuss an die Regierung gerichteten Aufruf, die rechtlichen Rahmenbedingungen zu überarbeiten und weiterzuentwickeln, sowie die Aufforderung, dafür zu sorgen, dass Sterilisierungen mit der frei und auf der Grundlage angemessener Informationen gegebenen Zustimmung der betroffenen Frauen durchgeführt werden.
Im Blick auf ihre eigenen Erfahrungen stellt die Mutter einer vierjährigen Tochter fest: „Hätte ich meine Rechte als von HIV betroffene Frau nicht gekannt, hätte mich das ärztliche Personal in der frühen Phase meiner Schwangerschaft zwangssterilisiert.“ Heute gehört zu Rincons Arbeit bei der IELCO die Unterstützung von Frauen in prekären Situationen, die Mühe haben, sich tragfähige Lebensgrundlagen aufzubauen, und „die dabei häufig mit geschlechtsspezifischer und sexueller Gewalt, Angst, Scham und Unwissenheit und mit der Verpflichtung konfrontiert sind, ihre Familie und insbesondere die Kinder zu versorgen und zu schützen.
Prävention, Untersuchung und Bestrafung von Vergehen
Durch den bewaffneten Konflikt in Kolumbien wurden bis zu 5 Millionen Menschen, mehrheitlich Frauen und Kinder, aus ihren Heimatorten vertrieben. Das entspricht über 10 Prozent der Bevölkerung. Der CEDAW betonte, „zwar leiden alle Zivilistinnen und Zivilisten unter bewaffneten Konflikten, aber Frauen und Mädchen werden vorrangig und zunehmend mehr Opfer der Anwendung von sexueller Gewalt.“
Unter Verweis auf Untersuchungen der NGO Profamilia und des nationalen Instituts für Rechtsmedizin und Kriminaltechnik stellt der Schattenbericht fest, alle am Konflikt in Kolumbien beteiligten bewaffneten Gruppen übten sexuelle Gewalt aus.
Trotzdem hofft Rincon, dass die im Oktober 2012 in Norwegen aufgenommenen Friedensverhandlungen zwischen der Regierung und den Revolutionären Streitkräften Kolumbiens (FARC), die aktuell in Kuba fortgesetzt werden, eine endgültige Einstellung des Konflikts bringen werden.
Für die meisten Frauen aber – das hebt auch der Bericht des CEDAW hervor – endet die Gewalt nicht mit der Unterzeichnung eines Friedensabkommens. Häufig nimmt sie unter den nach dem Ende eines Konflikts herrschenden Bedingungen zu. Weiter verschärft werde sie dadurch, dass nicht gegen sämtliche Formen geschlechtsspezifischer Gewalt Prävention betrieben werde und zu entsprechenden Vergehen keine Ermittlungen eingeleitet bzw. diese nicht bestraft würden, so Rincon.
Unter Verweis auf Beispiele aus dem Schattenbericht stellt die IELCO-Vertreterin fest, die in den Jahren 2010 und 2011 angezeigten Fälle sexueller Gewalt betrafen zu 84 Prozent Frauen, zu 16 Prozent Männer: „Das ist ein Verhältnis zwischen Männern und Frauen von eins zu fünf.“ Rincon bekräftigt die Aussage des nationalen Instituts für Rechtsmedizin und Kriminaltechnik, wonach „die Straflosigkeit […] bei solchen Verbrechen bei 98 Prozent [liegt]. Sie ist gekoppelt mit einer hohen Dunkelziffer nicht angezeigter Übergriffe, der fehlenden Sichtbarkeit dieser Verbrechen und der beständigen Angst davor, sie anzuprangern.“
Advocacy
Rincon dankt dem LWB für seine Begleitung der AIDS-Arbeit der IELCO und der Bemühungen um Frauenrechte und Gendergerechtigkeit. Nach ihrer Einschätzung sind in vielen Bereichen Fortschritte zu verzeichnen, aber es bleiben „immer noch so viele Herausforderungen, was die Überwindung der von Gewalt geprägten Kultur angeht, die in Kolumbien inzwischen alltäglich geworden ist.“
Im Rahmen einer vom LWB organisierten Tagung im Ökumenischen Zentrum in Genf berichteten Rincon und Fabiola Tapasco, ebenfalls aus Kolumbien, von ihren bei der CEDAW-Tagung gesammelten Eindrücken und von der Arbeit der Kirchen mit marginalisierten Frauen in dem lateinamerikanischen Land. Die 30 VertreterInnen kirchlicher Organisationen, die an der Tagung teilnahmen, diskutierten die Probleme beim Schutz der Frauenrechte sowie Möglichkeiten, wie Organisationen aus dem kirchlichen Raum den Einsatz für Frieden und Gerechtigkeit im Land noch stärker unterstützen können, als es bisher bereits geschieht.
Rincon ergänzt, es sei erforderlich, dass Kirchen, Zivilgesellschaft und andere Einrichtungen der Vereinten Nationen ihre Advocacy-Bemühungen ebenfalls verstärken und „Kolumbien in die Verantwortung nehmen hinsichtlich seiner Pflichten aus dem Übereinkommen der Vereinten Nationen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau, das es 1982 ratifiziert hat.“
Der LWB ist in Kolumbien durch die IELCO, die ihm seit 1966 angehört, und durch das Länderprogramm der Abteilung für Weltdienst präsent.