Leidenschaftlich engagiert für die Kirche: Im Gespräch mit Martin Junge

29 Okt. 2021
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LWB-Generalsekretär Martin Junge während eines Solidaritätsbesuchs in Simbabwe im März 2020. Foto: LWB/A. Danielsson

LWB-Generalsekretär Martin Junge während eines Solidaritätsbesuchs in Simbabwe im März 2020. Foto: LWB/A. Danielsson

Der scheidende LWB-Generalsekretär über die Einheit unter Mitgliedskirchen und in der christlichen Welt

GENF, Schweiz (LWI) – Als lutherische Kirchen, „lasst uns von den Aposteln lernen, die lange Reisen nicht scheuten, um zusammenzukommen, zu beten, zu diskutieren und Wege zu finden, die gute Nachricht des Evangeliums von Jesus Christus in einer Welt zu bezeugen, die sich nach Worten und Taten des Friedens, der Gerechtigkeit und der Versöhnung sehnt“.

Nach elf Jahren als Generalsekretär des Lutherischen Weltbundes (LWB) blickt Martin Junge auf den Aufruf zur Einigkeit, den er als „starkes Zeichen“ für die Gemeinschaft der 148 Mitgliedskirchen sieht. Er unterstreicht, dass weitere Überlegungen zum Verhältnis zwischen der Autonomie jeder Ortskirche und der gegenseitigen Rechenschaftspflicht, die die Weltgemeinschaft zusammenhält, nötig sind.

Während er sich auf seinen Rücktritt vorbereitet, blickt Junge zurück auf die Höhepunkte seiner Amtszeit. Dazu gehör ökumenische Meilensteine und der Weg über die letzten Jahrzehnte zur Gleichstellung der Frauen in Kirche und Gesellschaft. In Zeiten der Fragmentierung und unterbrochener Kommunikation, wenn es den Menschen schwerfällt Gemeinsamkeiten zu finden, betont er, dass es „unsere Berufung ist, gemeinsam vorwärtszugehen und uns den spaltenden Kräften entgegenzustellen, während wir unsere Lasten gegenseitigen tragen“.

Wenn Sie auf den Beginn ihres Amtes zurückblicken, wie gelang es Ihnen, die Prioritäten des LWB zu prägen?

Als ich 2010 in Stuttgart zur Vollversammlung sprach, betonte ich die Notwendigkeit, gemeinsam zu diskutieren und wiederholte den Satz: „Gemeinsam werden wir einen Weg nach vorne finden.“ Nach Beginn meiner Amtszeit leitete der LWB einen umfassenden partizipativen Prozess ein, in dem die Ergebnisse der Vollversammlung überprüft und die Mitgliedskirchen angehört wurden, um zusammen die Prioritäten für unsere gemeinsame Arbeit und unser Zeugnis festzulegen.

Das Ergebnis war das erste LWB-Strategiepapier „Leidenschaftlich engagiert für die Kirche und die Welt“. Mit dieser Strategie konnten wir unsere gemeinsame Basis ausdrücken, unsere theologische Identität als Gemeinschaft, unsere Werte und Prioritäten und wie wir unsere gemeinsame Arbeit ausführen und unser Zeugnis in der Welt ablegen.

Was verstehen Sie unter den Worten „leidenschaftlich engagiert für die Kirche“?

Eine der Dimensionen, die ich am LWB immer geschätzt habe, ist sein starkes Engagement für die Kirche, im Evangelium gegründet und dies bezeugend und mit seiner lebensspendenden Botschaft auf die Menschen ausgerichtet. Wir sind leidenschaftlich für die Mission der Kirche engagiert, genau wie für die Einheit der Kirche.

Sie haben mit der Stärkung der Zusammenarbeit innerhalb der Regionen gefördert, richtig?

Ja. Als der LWB bei der Vollversammlung 1990 in Curitiba sein Selbstverständnis als Weltgemeinschaft von Kirchen ausdrückte, gab es kein Rezept dafür, wie solche Beziehungen gelebt werden sollten. Doch die Delegierten erklärten sich einverstanden, damit zu beginnen, ihre Gemeinschaft auf regionaler Ebene zu pflegen. Das war ein guter Anfang. In den Regionen gibt es eine geografische und oft auch sprachliche und kulturelle Nähe, was sich als entscheidend herausgestellt hat, um das theologische Verständnis zu vertiefen, dass wir eine Weltgemeinschaft von Kirchen sind.

Ich beobachte heute, in Zeiten von COVID-19, wie regionale Führungspersonen zusammenkommen, um sich gegenseitig zu bestärken, füreinander zu beten und voneinander zu lernen. Die praktische Unterstützung durch den COVID-19-Soforthilfefonds ist ein globaler Ausdruck der Gegenseitigkeit und Solidarität unter den Mitgliedskirchen. Insgesamt ist die Reise von einer Föderation zu einer Gemeinschaft eine außergewöhnliche Geschichte darüber, wie Vertrauensbeziehungen gefestigt, gemeinsame Praktiken entwickelt und gegenseitige Unterstützung in der Mission geleistet wurde.

Arbeitet der LWB dreißig Jahre nach dieser Vollversammlung in Brasilien weiterhin daran, dieses Gefühl einer gemeinsamen lutherischen Identität zu vertiefen, die in sehr unterschiedlichen kulturellen Kontexten lebendig ist?

Gott sei Dank sind wir schon weit gekommen. Es wurden regionale Strukturen und Plattformen gegründet. Durch regelmäßige Verbindungen, Austausch und Gottesdienste haben sich die LWB-Mitgliedskirchen untereinander kennengelernt. Die Kirchen drücken ihre geteilte Verantwortung für Gottes Mission über Grenzen und Ethnien hinweg durch Besuche und praktische Zusammenarbeit aus. Durch Raum für Unterschiede und von Gebet begleiteten Diskussionen können Herausforderungen in Beziehungen oder in der Mission aufgegriffen und Probleme und Spannungen gelöst werden.

Ich fühle mich durch den Kontakt mit dem Zeugnis der Mitgliedskirchen in so unterschiedlichen Kontexten, und manchmal unter schwierigen Bedingungen, bereichert. Es war ein Geschenk, erleben zu dürfen, wie der Dreieinige Gott am Werk ist, indem er Gemeinschaften zusammenruft, sie mit Wort und Sakramenten nährt, um sie für eine freudige Gegenwart zu rüsten, und in Worten und Taten zu verkünden, dass Gott gut ist – und Jesus Christus gesandt hat, damit wir alle leben können.

Wie hilft dieses Gefühl der miteinander geteilten Identität dabei, mit Unterschieden oder Spannungen umzugehen?

Die Kirche hat immer mit Unterschieden gelebt. Das lesen wir schon in der Apostelgeschichte. Dort sehen Sie, dass sie sich über die Fragen uneinig waren, was man essen oder welche Riten man einhalten müsste, um sich Christ oder Christin nennen zu können. Lasst uns von den Aposteln lernen, die lange Reisen nicht scheuten, um zusammenzukommen, zu beten, zu diskutieren und Wege zu finden, um als eine Gemeinschaft, die Unterschiede akzeptiert und die Lasten des anderen trägt, Zeugnis abzulegen, wie Paulus in seinem Brief an die Galater sagt. Das sind wichtige Lektionen, insbesondere in Zeiten der Fragmentierung und unterbrochener Kommunikation. Wenn die Menschen Schwierigkeiten haben, Gemeinsamkeiten zu finden, ist es unsere Aufgabe, gemeinsam vorwärtszugehen, sich mit Unterschieden auseinanderzusetzen und sich aufeinander zu stützen.

Wurde dieser gemeinsame Weg in den letzten Jahrzehnten erfolgreich auf die Frage der Ordination von Frauen angewendet?

Ich glaube, es gibt starke theologische Gründe dafür, Frauen in die ordinierten Ämter der Kirche aufzunehmen. Unsere lutherische theologische Tradition ermöglicht dies auf besondere Art. Die Ordination von Frauen ist ein Geschenk, das wir anbieten können. Und wir sollten es mit Überzeugung vertreten. Heute haben ungefähr 85 Prozent der LWB-Mitgliedskirchen sowohl Frauen als auch Männer im ordinierten Amt. Und diese Zahl nimmt weiter zu. Ich habe mich sehr gefreut, dass die Kirche in Polen kürzlich beschlossen hat, Frauen ins als Pfarramt zu ordinieren.

Seit der Vollversammlung 1984 in Budapest haben LWB-Mitgliedskirchen ihr Engagement für die Ordination von Frauen ausgedrückt und sich gegenseitig dazu aufgefordert und dabei unterstützt, auf dieses Ziel hinzuarbeiten. Aber die Entscheidung bleibt letztlich den Mitgliedskirchen überlassen. Doch während wir darauf hinarbeiten, erkennen wir uns weiterhin gegenseitig als vollwertige Kirchen an und lassen nicht zu, dass diese Frage zum Anlass genommen wird, uns gegenseitig auszuschließen. Diese Position vertreten wir bis heute. Sie hat ihr starkes Fundament in der Art, wie die lutherischen Gemeinschaften die Einheit unter den Kirchen definieren. 

Indem wir diesen Weg weitergehen, legen wir ein umfassenderes Zeugnis für das Evangelium ab und verkörpern auf tiefere Weise, was Gott dem Oikos, der Welt als Ganzes und der Menschheit, bringen will: Einheit. Deshalb müssen wir dieses Ziel weiterverfolgen. Es ist zutiefst biblisch und fest verwurzelt in unserem theologischen Verständnis von Kirche und ordiniertem Amt, wie es in den lutherischen Bekenntnissen definiert ist.

Denken Sie, der LWB sollte bei Anliegen zu Gendergerechtigkeit eine Vorreiterrolle einnehmen?

Ja. Ich bin ein starker Verfechter des Konzeptes der Gendergerechtigkeit. Denn ich glaube, dass es tief in der Bibel und dem theologischen Denken verwurzelt ist. Es passt zur Art, wie Jesus in diese Welt kam, wie er mit Frauen sprach und sie mit einbezog, was zu seiner Zeit noch nicht akzeptiert war. Er tat dies wegen der Botschaft vom Reich Gottes, das in dieser Welt anbricht. Das ist die Botschaft, die wir auch heute der Welt verkünden sollten. Wenn wir tatsächlich erwarten, dass Gottes Herrschaft in dieser Welt anbricht, müssen wir weiterhin über die Frage von Gendergerechtigkeit sprechen.

Wie kann man diese Vision in den Ortskirchen umsetzen?

2013 verabschiedete der LWB-Rat das Grundsatzpapier zur Gendergerechtigkeit. Dabei war klar, dass dieses Papier keine gesetzgebende Autorität über die Mitgliedskirchen hatte. Laut Verfassung ist der LWB eine Gemeinschaft von Kirchen, bei der jede Kirche ihre Autonomie und Autorität behält, um Entscheidungen zu treffen. Dennoch sind diese Kirchen aufgrund von Gottes Ruf in die Gemeinschaft auch voneinander abhängig. Deshalb existiert hier eine Gegenseitigkeit: Was auf lokaler Ebene geschieht, prägt ihr globales Zeugnis und was global passiert, beeinflusst ihr lokales Amt. Autonomie und gegenseitige Rechenschaftspflicht definieren eine Beziehung, die weiter reflektiert und im Leben des LWB ausgedrückt werden muss.

Doch ich freue mich darüber, wie das Grundsatzpapier zur Gendergerechtigkeit auf lokaler Ebene angenommen wurde. Es ist das LWB-Dokument, das am meisten in lokale Sprachen übersetzt wurde. Wir wissen, wie es in den Pfarrkonferenzen und Synoden aufgegriffen wurde und auch in die Verkündigung kirchlicher Richtlinien eingeflossen ist. Es wurde in Kontext gesetzt, indem Mitgliedskirchen ihre Perspektiven in Übereinstimmung mit ihren Realitäten, in denen sie bezeugen, hinzugefügt haben.

Wir sind uns jedoch bewusst, dass alle Errungenschaften, die in den letzten Jahrzehnten im Bereich der Frauenrechte und der Gendergerechtigkeit erzielt wurden, auch wieder in Frage gestellt werden. Die Kirchen sind von dieser allgemeinen Tendenz nicht ausgenommen. Wir beobachten, wie an einigen Stellen revisionistische Ansätze aufbrechen. Wir reagieren auf sie mit dem, was wir zur Hand haben: das biblische Zeugnis und die theologische Reflexion, die Gendergerechtigkeit nicht als „Bonus“ ansehen, sondern als notwendig.

Als LWB-Generalsekretär sind Sie auch der oberste Ökumenebeauftragte. Was gibt Ihnen in der Arbeit für Einheit in der christlichen Welt am meisten Hoffnung?

Lutherisch zu sein bedeutet, ökumenisch zu sein. Und ich bin sehr dankbar für die Möglichkeit in der privilegierten Stellung des Generalsekretärs aktiv zu sein. Ich könnte Ihnen viele Geschichten aus den letzten zehn Jahren erzählen! Mein Amt begann mit der Versöhnung zwischen Lutheranern und Mennoniten, die äußert bewegend und kraftvoll war. Ich erinnere mich, dass ich dazu eingeladen wurde, auf der Generalversammlung der Mennonitischen Weltkonferenz zu sprechen. Dort wurde die Nachricht über die Versöhnung mit viel Freude und starken Emotionen entgegengenommen.

Ich bin davon überzeugt, dass der Prozess mit den Mennoniten auch einen wichtigen Einfluss auf den Prozess „Vom Konflikt zur Gemeinschaft“ mit der katholischen Kirche hatte, der 2016 beim Gemeinsamen Reformationsgedenken als Meilenstein in unserer Beziehung gipfelte.

Die Beziehungen zu den Anglikanern verlagerten sich vom Dialog auf die praktische Zusammenarbeit und die Mission vor Ort. Dabei wurde auf Bestehendem aufgebaut, denn letztlich ist die Einheit kein Selbstzweck. Es geht darum, dass die Kirche um der Mission Gottes in der Welt willen ganz wird. Wenn wir also mit der Frage der Einheit ringen, geht es darum, dass wir gemeinsam dort draußen sind und die Botschaft in Worten und Taten verkünden.

In diesem Jahrzehnt haben wir es auch geschafft, eine Dialogphase mit der orthodoxen Kirche abzuschließen. Es gab mir viel Hoffnung, in Pandemiezeiten zu sehen, dass orthodoxe und lutherische Teilnehmende die Vorbereitung des nächsten Plenartreffens online weiterführten.

2017 unterzeichnete der LWB mit der Weltgemeinschaft Reformierter Kirchen das Wittenberger Zeugnis. Darin bekräftigen sie unseren gemeinsamen Aufruf zur weiteren Erneuerung und Zusammenarbeit. Darüber hinaus, und das ist sehr wichtig, konnten wir auf dem Weg zum Reformationsgedenken 2017 einen guten Dialog mit den Pfingstkirchen weltweit führen.

Im Jahr 2018 veröffentlichten wir die Selbstverpflichtungen des Lutherischen Weltbundes auf dem ökumenischen Weg hin zur ekklesialen Gemeinschaft. Im Dokument wird nachdrücklich unser Engagement auf dem Weg zur christlichen Einheit bekräftigt. Es enthält auch einige praktische Vorschläge zur Umsetzung dieser Grundsätze.

Das sind alles Dimensionen, die gefeiert werden können, genau wie die Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre, die in den letzten Jahren zu einer Plattform wurde, auf der fünf globale christliche Gemeinschaften - Lutheraner, Katholiken, Methodisten, Reformierte und Anglikaner - zusammenarbeiten.

Sie bezeichnen das Gemeinsame Reformationsgedenken als Meilenstein in Ihrer Amtszeit?

Ja, das war in vielen Hinsichten äußerst bedeutend. Als wir begannen, hatten wir uns auf drei Hauptanliegen konzentriert: Das 500. Jubiläum musste mit dem Verständnis angegangen werden, dass die Reformation heute eine Weltbürgerin ist. Außerdem ist sie nicht abgeschlossen, denn Gott hat sich nicht aus der Geschichte zurückgezogen, sondern ruft weiterhin Menschen und Gemeinschaften dazu auf, seine Zeuginnen und Zeugen zu sein. Drittens musste das Reformationsgedenken mit einem tiefgehenden Verständnis der ökumenischen Rechenschaftspflicht gefeiert werden.

Der Teil zur ökumenischen Rechenschaftspflicht war wichtig, um sicherzustellen, dass das Reformationsgedenken uns nicht zurück in die Vergangenheit zog, sondern uns dazu einlud, nach vorne in die Zukunft zu schauen. Ich bin der katholischen Kirche, und besonders dem Päpstlichen Rat zur Förderung der Einheit der Christen unendlich dankbar. Sie unterstützten unseren Wunsch, über unsere Geschichte der Spaltung und Gewalt hinauszugehen und in die Geschichte hineinzuleben, in die Gott uns ruft. Andere weltweite christliche Gemeinschaften schlossen sich uns ebenfalls an und unterstützten uns. Man kann nicht allein ökumenisch sein!

Die Feierlichkeiten in Lund (2016) und der gemeinsame Gottesdienst mit Papst Franziskus und LWB-Präsident Younan waren bedeutend. Aber bedeutend war auch die Veranstaltung in Malmö, die auf den Gottesdienst in Lund folgte. Wir hatten verstanden, dass unsere Annäherung nur dann ihre tiefste Bedeutung für die Menschheit entfalten kann, wenn unser Weg zur Versöhnung zu einer Gabe der Gerechtigkeit und Ganzheit für unterdrückte und leidende Menschen wird. Deshalb unterzeichneten wir eine Absichtserklärung zwischen dem LWB-Weltdienst und Caritas Internationalis, in der wir uns verpflichteten, wo immer möglich zusammenzuarbeiten, ein gemeinsames Glaubenszeugnis abzulegen und uns für Gerechtigkeit, Frieden und ein Leben in Fülle für alle einzusetzen.

Die Feierlichkeiten zum Reformationsgedenken gipfelten dann in der Vollversammlung in Namibia, nicht wahr?

Ja, und es waren so viele Akteure an der Gestaltung beteiligt. Vom Büro der Kirchengemeinschaft boten wir unsere Überlegungen aus der besonderen Position heraus an, die globale Perspektive der Kirchen zu sehen. Das Thema „Befreit durch Gottes Gnade“ wiederholt die ersten Worte des LWB-Leitbilds „Befreit durch Gottes Gnade, eine Gemeinschaft in Christus, die gemeinsam lebt und arbeitet für eine gerechte, friedliche und versöhnte Welt“. Es verbindet uns mit zwei grundlegenden Worten der lutherischen Theologie: Gnade und Freiheit. Ich betone immer wieder: Eine Kirche, die die gute Nachricht der Rechtfertigung verkündet, ist eine Kirche, die die Freiheit als Ausdruck des Glaubens fördert. Rechtfertigung und Freiheit sind untrennbare Geschwister.

Wir bestimmten drei Unterthemen und das Motto „Für Geld nicht zu haben“, der im sechzehnten Jahrhundert die Reformation auslöste. Am Anfang stand die Frage, ob Gnade als eine Gabe Christi zu Geld gemacht werden konnte. Und die lutherische Antwort bleibt weiterhin unmissverständlich: sie ist für Geld nicht zu haben.

Doch statt Themen von vor 500 Jahren wieder aufzugreifen, übertrugen wir sie auf die heutige Welt und kamen auf drei Unterthemen. Das erste Thema hieß: Erlösung – für Geld nicht zu haben. Wir können die Verzweiflung und die Angst der Menschen nach Ganzheit, nach Frieden in ihren Köpfen und Herzen nicht zu einer Ware machen, auch nicht die kostenlose, aber wertvolle Gabe Christi, der gekommen ist, damit alle „das Leben finden und es in Fülle finden“.

Das zweite Unterthema war: Menschen – für Geld nicht zu haben. Dort behandelten wir Themen rund um Menschenhandel und Sklaverei, die in vielen Teilen der Welt vorherrschen. Auch die Unterordnung des Wertes und der Würde der Menschen unter ein Wirtschaftssystem, das Menschen und ganze Länder und Regionen ausschließt, statt den Menschen zu dienen. Schließlich wollten wir die Bedeutung von Menschenrechten als gemeinsame Sprache zur Verteidigung der heute gefährdeten Würde und inneren Werte eines jeden Einzelnen unterstreichen.

Und das dritte Unterthema lautete: Schöpfung – für Geld nicht zu haben. Dort untersuchten wir, was wir aus unserer Beziehung zur geschaffenen Welt gemacht haben. Wir sind von ihr abhängig, wir sind Teil des Ökosystems. Wir haben uns trotzdem abgelöst und uns davon isoliert; mit verheerenden Folgen: Verlust der Biodiversität und Klimanotstand. Die Frage ist, ob wir meinen, dass die Schöpfung nichts als eine Ressource ist, die gewinnbringend ausgebeutet werden kann. Was sagt unser Glaube über die Menschen als Teil der geschaffenen Welt? Was sind die Grenzen, Verantwortungen und Aufgaben, die damit einhergehen?

Sie betonen immer häufiger die Wichtigkeit vom Zeugnis im öffentlichen Raum zu diesen wichtigen Themen.

Ja, und lassen Sie mich für unser Engagement im öffentlichen Raum, auf die theologischen Wurzeln verweisen. Die Menschwerdung Gottes in Christus war ein beispielloser Schritt in dieser Welt, um sie in das zu verwandeln, was Gott für diese Welt will. Eine Kirche, die sich zurückzieht und manchmal diese Welt hasst, die Gott so sehr geliebt hat, ist eine Kirche – so glaube ich – die auf dem falschen Weg ist. In unserem Dienst geht es um eine Welt, die Gott liebt und die er verwandeln möchte, damit das Leben blühen kann und der Friede – Schalom – fest in unseren Beziehungen verankert ist. Das ist die Mission, an der die Kirche teilnimmt, für die sie gerufen wurde. Das setzt voraus, dass die Kirche draußen ist. Denn der öffentliche Raum ist ein offener Raum. Lesen Sie nach, was Jesus gemacht hat. Er war selten an religiösen Stätten anzutreffen. Er war die meiste Zeit in Dörfern unterwegs und suchte nach Situationen, in denen ein Wort und eine Präsenz dringend benötigt wurde, die von Gottes Reich inspiriert worden war. Ich glaube, das ist der Ort, wo die Kirche sein muss.

Wenn Sie zurückschauen, was waren die größten Freuden und die größten Herausforderungen für Sie?

Bei den Herausforderungen könnte ich viele nennen. Aber lassen Sie mich das Folgende sagen, während ich mich darauf vorbereite, das Amt niederzulegen: Es wird eine Zeit sein, in der wir das Unerledigte, die unvollendeten Baustellen akzeptieren und darauf vertrauen, dass andere mit neuen Ideen, frischer Energie und einer neuen Vision einspringen, um die Arbeit fortzusetzen. Schließlich ist es nicht unsere, sondern Gottes Arbeit. Und das, was Gott gemacht hat und weiterhin tun wird, unter den lutherischen Kirchen in dieser Zeit.

Die Freuden sind ebenfalls zahllos. Sie können sich nicht vorstellen, wie privilegiert ich mich fühle, dass ich diese einzigartige Gelegenheit hatte, dem LWB als Generalsekretär zu dienen. Ich bin mehr denn je zuvor davon überzeugt, dass man den LWB gründen müsste, wenn es ihn noch nicht geben würde. Sofort! Um dessen willen, was Gott in dieser Welt tut.

Da ich ein hoffnungsvoller Mensch bin, lassen Sie mich eine besondere Freude und Dankbarkeit nennen: Die jungen Menschen im LWB sind ein Segen. Sie haben uns so viel Leben, Hoffnung und Energie gebracht. Sie haben uns geholfen zu verstehen, dass Klimagerechtigkeit ein Thema der Gerechtigkeit zwischen den Generationen ist. Den Garten, den wir geerbt haben, machen wir zu einer Wüste: die Welt, die wir heute erleben, wird nicht die Welt sein, in der unsere Kinder leben.

Haben Sie eine Botschaft an die neue Generalsekretärin?

Ich glaube, es ist eine Botschaft, die ich dem Rat wiederholt gegeben habe und sehr mit dem übereinstimmt, was ich gerade gesagt habe: Der LWB ist voller außerordentlicher Lebendigkeit, Nachhaltigkeit und Widerstandsfähigkeit, weil Gottes Ruf in die Gemeinschaftsbeziehungen weiterhin stark ist, und der Heilige Geist uns dabei hilft, unsere Herzen und unseren Geist offen zu halten für diesen Ruf. Deshalb ist es nicht unsere Aufgabe, etwas Neues zu bauen, sondern auf dem aufzubauen, was durch Gottes Gnade bereits existiert. Es blühen und wachsen zu lassen, damit wir der Welt ein christliches Zeugnis geben können. Einer schmerzenden Welt, einer Welt im Konflikt, einer Welt in Angst. Trotzdem liegt die Welt immer noch in Gottes Händen.

Von LWB/P. Hitchen. Deutsche Übersetzung: Tonello-Netzwerk, Redaktion: LWB/A. Weyermüller

  

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