Polen: Eine Schule wie eine Familie

06 Juni 2023

Der LWB unterstützt zwölf Schülerinnen und Schüler, die aus der Ukraine geflüchtet sind und in der polnischen Stadt Gleiwitz die Albert-Schweitzer-Schule, eine protestantische Schule mit lutherischer Prägung, besuchen. Für sie und ihre Familien bedeutet das eine große Hilfe.

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Im Matheunterricht werden römische Zahlen gelernt

Im Matheunterricht werden römische Zahlen gelernt. Foto: LWB/Albin Hillert

LWB-Stipendium für ukrainische Flüchtlinge in Polen

(LWI) – „Diese Schule ist ganz anders. Sie ist weniger eine Lerneinrichtung, sondern mehr wie eine Familie. Für uns stellt diese Schule eine der größten Hilfen dar“, sagt Kalina Mokrya, eine aus der Ukraine geflüchtete Mutter von drei Mädchen. Ihre Töchter besuchen alle die Albert-Schweitzer-Schule in der polnischen Stadt Gleiwitz (polnisch: Gliwice), eine protestantische Schule mit lutherischer Prägung. Der LWB kommt für die Schulgebühren von zwölf aus der Ukraine geflüchtete Schülerinnen und Schüler auf, die an der Schule gute Leistungen bringen.

Schaut man sich eine Gruppe Schülerinnen und Schüler an, kann man die ukrainischen Kinder nicht von den polnischen unterscheiden. Die Kinder, die im vergangenen Jahr vor dem Krieg geflüchtet waren, beteiligen sich wie alle anderen an den Spielen und Unterhaltungen auf Polnisch. Vladislava, kurz Vlada, ist ein 15jähriges Mädchen, das mit allen bekannt zu sein scheint. Sie ist Mokryas älteste Tochter. In sehr gutem Englisch spricht sie über die Schule, ihre Träume und ihr Vorhaben, später einmal Jura zu studieren.

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Vlada Mokryk aus Kiew

Vlada Mokryk aus Kiew. Foto: LWB/Albin Hillert

Der Krieg in drei Minuten

Die ganze Familie erinnert sich an den Tag, als der Krieg begann. Die Mutter weinte, als sie ihre Mädchen weckte und ihnen mitteilte, dass die Stadt bombardiert werde. Vlada fragte unbeeindruckt, ob sie Essen beim Lieferdienst bestellen könnten, denn alle Läden waren geschlossen. „Ich wollte sie schütteln, aber dann ging mir auf: sie ist ein Kind. Das ist ihre Art, sich zu schützen“, erzählt ihre Mutter.

Die Wirklichkeit holte die Kinder schon bald ein. In den ersten Tagen schliefen die Kinder im Badezimmer ihrer Wohnung in Kyjiw, den die Familie für den sichersten Raum in der Wohnung hielt. Kalina zeigt Videos auf ihrem Handy von den Kindern in einem Nest aus Decken in der Badewanne und auf dem Fußboden, man sieht belegte Brote und eine ukrainische Flagge vor dem Spiegel. Zehn Tage nach Beginn der Luftangriffe verließ die Familie Kyjiw. Vlada packte, als ginge es in den Urlaub: Powerbank, Tablet, ihre Lieblingshandtaschen und einen Badeanzug. „Ich hatte gehofft, es sei in einer Woche vorbei. Jetzt ist es schon ein Jahr her“, sagt sie.

Vlada vermisst ihre Heimatstadt und ihre Freundinnen. Sie schicken sich noch immer gegenseitig Nachrichten. Die Teenagerin bekommt mit, wie sich die in der Heimat verbliebenen Gleichaltrigen über Hausaufgaben und die gelegentlichen Luftangriffe unterhalten. In einem Referat vor der Klasse an ihrer neuen Schule sprach sie über die Tiere, die von Seeminen und U-Booten im Schwarzen Meer getötet wurden. „Das hatte ich in den Sozialen Medien gelesen und wollte meinen Klassenkameradinnen und -kameraden davon berichten“, sagt sie. „Außerdem ist es einfacher über die Delfine zu sprechen als über den Krieg an sich. Da passieren so viele schreckliche Dinge – wie bringt man einen Krieg in einem dreiminütigen Referat unter?“

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Kinder bei einer Mahlzeit in der Pause

Kinder bei einer Mahlzeit in der Pause. Foto: LWB/Albin Hillert

Für viele Flüchtlingsfamilien ist Bildung ein wichtiges Thema. Mehr als die Hälfte der Flüchtlingskinder aus der Ukraine besucht keine staatliche Schule, sondern nimmt online am Unterricht ihrer ukrainischen Schulen teil. Im polnischen Schulsystem gibt es dazu eine Sonderregelung. Eltern bevorzugen den Online-Unterricht aus vielerlei Gründen: einige wollen sichergehen, dass ihre Kinder die Aufnahmeprüfung für die nächste schulische Stufe in der Ukraine bestehen, andere fürchten, die Kinder könnten ihre Muttersprache verlernen.

Viele dachten, der Krieg wäre in wenigen Monaten vorbei und sie könnten zurück nach Hause. Ein Jahr, nachdem die COVID-19-Pandemie für beendet erklärt wurde, sind Millionen ukrainischer Kinder erneut ohne die Gleichaltrigen, die Erfahrungen und das Miteinander, die alle zu einem normalen Schulalltag gehören.

Lehren, nicht zu hassen

Einige Kinder tun sich in den staatlichen Schulen schwer, da diese eine große Anzahl an Flüchtlingen aufnehmen mussten und den durch den Krieg traumatisierten Kindern nicht immer besondere Aufmerksamkeit widmen können. So wie im Fall des achtjährigen Jegor (Name geändert) aus Charkiw, der von einer staatlichen Schule wechselte. In der Klasse empfing Vladas jüngere Schwester Zolomya den schüchternen Jungen mit offenen Armen und dolmetschte in den ersten Wochen für ihn, erinnert sich seine Lehrerin. Jetzt beteiligt sich Jegor wie alle anderen Schülerinnen und Schüler am Unterricht.

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Jegor während des Matheunterrichts

Jegor während des Matheunterrichts. Foto: LWB/Albin Hillert

An der Albert-Schweitzer-Schule erleichtern kleine Klassen und eine freundliche Atmosphäre Vlada und den anderen ukrainischen Schülerinnen und Schülern die Integration. „Ich finde es toll, wie mir hier alle geholfen haben. Ich habe Freundinnen, niemand ist gemein zu uns“, sagt Vlada. Sie wollte keine Sonderbehandlung, und so legte sie ein halbes Jahr nach der Flucht aus der Ukraine wie alle anderen Schülerinnen und Schüler ihre Jahresabschlussprüfung ab. „Ich habe die ganze polnischen Literatur gelesen, die auf dem Lehrplan stand“, sagt sie stolz.

40 Lehrkräfte, 50 Mitarbeitende und 150 Schülerinnen und Schüler: die Schule ist stolz auf ihre akademische Bilanz und ihr Profil. Religiöse Erziehung und christliche Werte gehören zum Schulalltag. „An diesem Ort können die Schülerinnen und Schüler ihre individuellen Fähigkeiten entwickeln“, sagt die Rektorin.

Für Kalina Mokrya gehen die Lehren der Schule weit über die nächsten Prüfungen hinaus. „Ich denke bereits über die Zeit nach dem Krieg nach“, sagt Kalina Mokrya. „Wir müssen unseren Kindern dabei helfen, dass sie nicht hassen. Gerade jetzt fällt das sehr schwer.“

LWB/C. Kästner-Meyer