Ungarn: Vom Gemeindepfarrer zum LWB-Vizepräsidenten

05 Okt. 2023

Der Leitende Bischof Tamás Fabiny berichtet von Erkenntnissen und Lehren aus der Zeit zwischen der LWB-Vollversammlung in Budapest in den 1980er Jahren und der jüngsten Vollversammlung in Krakau, Polen.

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Bischof Tamás Fabiny

Bischof Tamás Fabiny. Foto: LWB/Albin Hillert

Interview mit Tamás Fabiny, Leitender Bischof der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Ungarn 

(LWI) – Vom Lutherischen Weltbund (LWB) hat Tamás Fabiny, der in den 1970er Jahren als junger Mann im kommunistischen Ungarn Theologie studierte, zum ersten Mal von seinem Vater gehört. Er verfolgte daraufhin die Ereignisse in Daressalam, wo 1977 die Sechste LWB-Vollversammlung stattfand. Mit ihrem Aufruf, Frauen und jungen Menschen größere Anerkennung entgegenzubringen, schien diese Zusammenkunft von lutherischen Kirchenleitenden aus aller Welt in Tansania Welten entfernt von der abgeriegelten und autoritären Gesellschaft, in der Fabiny aufwuchs. 

„Es war eine sehr aufregende Zeit“, erinnert er sich im Rückblick auf seinen persönlichen Werdegang von einer kirchenleitenden Funktion in seinem Heimatland bis zu seiner jüngst erfolgten – erneuten – Wahl zum LWB-Vizepräsidenten für die Region Mittel- und Osteuropa. Diese erneute Wahl zum Vizepräsidenten erfolgte auf der Dreizehnten LWB-Vollversammlung in Krakau, Polen, für die Fabiny als Vorsitzender des internationalen Planungsausschusses eine zentrale Rolle gespielt hat. 

Fabiny ist erfolgreicher Autor, Professor für Neues Testament, ehemaliger Direktor des Kirchenprogramms im ungarischen Fernsehen und Leitender Bischof der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Ungarn; im folgenden Interview erläutert er, wie sein Engagement auf internationaler Bühne sein Leben und seinen Dienst geprägt hat. 

Erzählen Sie uns kurz, wie Ihr persönlicher Weg in den Dienst und die Übernahme von Führungsverantwortung in der Kirche begonnen hat. 

Ich bin in einer überzeugt lutherischen Familie aufgewachsen. Ich war das dritte Kind meiner Eltern, die sich auf einer Kirchenkonferenz kennengelernt hatten. Mein Vater war gelernter Jurist, hatte aber 1948 beschlossen, Theologie zu studieren. Das war eine mutige Entscheidung, weil viele Menschen zu der Zeit überzeugt waren, dass die Kirche in einer atheistischen Gesellschaft keine Zukunft habe. Anfangs wollte ich auf keinen Fall in seine Fußstapfen treten, aber mit 17 Jahren habe ich dann doch eine zunehmend starke Berufung zum Dienst verspürt und habe also in Budapest, Chicago und schließlich in Erlangen, Deutschland, Theologie studiert.

Ihr Engagement im LWB nahm schon kurze Zeit später seinen Anfang, richtig? 

Ganz genau. Als ich 1982 zum Pfarrer ordiniert wurde, liefen die Vorbereitungen auf die anstehende LWB-Vollversammlung 1984 in Budapest auf Hochtouren. Es war das erste Mal, dass die lutherischen Kirchen aus aller Welt in meiner Heimatregion zusammentreten sollten. Ich war damals Mitglied im internationalen Vorbereitungsausschuss und war sehr stolz, dass ich vom LWB direkt entsandt worden war und damit nicht direkt der ungarischen Kirchenleitung oder dem atheistischen Staat unterstellt war.

Meine Reise nach Genf 1982 war zudem eines der ersten Male, dass ich in den Westen reisen durfte. Ich erinnere mich noch genau, wie ich auf dem Weg in die Schweiz am Bahnhof in Wien ankam: Im Gegensatz zum Grau in Budapest schien hier alles bunt und farbenfroh. Die Reise war ein Kulturschock für mich, auch in Bezug auf das kirchliche Leben. Ich kannte nur den autoritären Führungsstil aus meiner Heimat, aber in Genf lernte ich demokratische Strukturen und partizipatorische Entscheidungsprozesse kennen. Ich wurde sogar gebeten, den Vorsitz in einer unserer Sitzungen zu übernehmen – das war mir in meiner Heimat noch nie passiert; dort hatten nur Bischöfe und andere Personen in hohen Führungsfunktionen den Vorsitz. 

Welchen Einfluss hatte die Vollversammlung in Budapest auf Ihre Kirche und auf Sie persönlich? 

Ich war damals ein junger Gemeindepfarrer und war wie viele andere, die später Leitungsfunktionen in ihren jeweiligen Kirchen übernehmen sollten – zum Beispiel der ehemalige LWB-Präsident Munib Younan aus Jerusalem und die Leitende Bischöfin der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Amerika, Elizabeth Eaton – Mitglied im Planungsausschuss. Als wir uns in Krakau darüber unterhielten, waren wir uns alle einig, dass die Vollversammlung in Budapest für die ungarische Gesellschaft, aber auch für Europa insgesamt von zentraler Bedeutung gewesen ist. Trotz der Berliner Mauer sind auf dieser Vollversammlung Vertreterinnen und Vertreter aus Ost und West zusammengekommen und die Menschen konnten die Vitalität und Lebenskraft der Kirche trotz der vorherrschenden atheistischen Ideologien mit eigenen Augen sehen. 

Des Weiteren hat die Vollversammlung einige sehr wichtige Entscheidungen getroffen; beispielsweise wurden die Quoten für Frauen (40 Prozent) und junge Erwachsene (20 Prozent) in Führungspositionen beschlossen. Und in Budapest wurde außerdem beschlossen, die Mitgliedschaft jener Kirchen im LWB auszusetzen, die das Apartheid-Regime in Südafrika unterstützten. 

Wie beurteilen Sie jene erste Vollversammlung in Ihrer Heimatregion im Vergleich zur jüngsten Vollversammlung in Krakau? 

Es war sehr wichtig, nach fast 40 Jahren erneut in dieser Region zu tagen; daher habe ich mich sehr gefreut, als die polnische Kirche in meiner letzten Amtszeit als LWB-Vizepräsident für die Region [2010-2017] auf mich zugekommen ist. Es war mir eine große Freude, sie in ihrem Anliegen zu unterstützen, eine Vollversammlung auszurichten. Es ist immer eine großartige Veranstaltung, bei der sich die örtliche Kirche international verbunden fühlen und – insbesondere im Fall einer Minderheitenkirche – so viele engagierte lutherische Gläubige bei sich begrüßen kann.

Die politischen Umstände sind andere als damals, aber es gibt auch Parallelen mit der aktuellen populistischen Regierung in Polen. Ich denke, es war für die ganze Region wichtig, die zentrale Botschaft unseres Hauptreferenten, Tomáš Halík, zu hören, als er über die Gefahren einer engen Verbindung zwischen Kirche und Staat gesprochen hat. 

Was waren die größten Herausforderungen, mit denen Sie bei den Vorbereitungen auf die Vollversammlung in Krakau konfrontiert waren? 

Ich hatte die Ehre, den Vorsitz im Planungsausschuss innezuhaben. Aber unsere Reise nach Genf für eine erste Tagung als gesamter Ausschuss war für März 2020 geplant, als die Pandemie über uns hereinbrach und wir alle unsere Pläne über den Haufen werfen mussten. Wir haben stattdessen fünf oder sechs Online-Meetings machen müssen. Das war nicht einfach, aber irgendwie war es gleichzeitig auch ermutigend, zu sehen, wie einige Ausschussmitglieder mit ihrem morgendlichen Kaffee und andere mit einem Becher Tee vorm Zubettgehen zusammenkamen.

Wir haben uns mit dem Thema „Ein Leib, ein Geist, eine Hoffnung“ beschäftigt, das nach einstimmiger Meinung der Delegierten ein sehr gutes Thema gewesen ist, weil es aktuell und zeitgemäß war. Auch haben wir beschlossen, einen Besuch in den Konzentrations- und Vernichtungslagern Auschwitz-Birkenau zu einem integralen Bestandteil des Programms der Vollversammlung zu machen, und ich denke, das war sehr wichtig – vor allem zusammen mit den Klagegebeten, der Seelsorge und den Worten des Auschwitz-Überlebenden Marian Turski am folgenden Tag. 

Was waren in Ihren Augen die zentralen Botschaften dieser Dreizehnten Vollversammlung? 

Da gab es viele, aber das Thema Krieg und Frieden war ein sehr zentrales. In meinen Augen hätten wir vielleicht noch etwas mehr über die Menschen sprechen können, die vor dem Konflikt aus der Ukraine fliehen, denn in unserem Lebenskontext erleben wir das ja tagtäglich. Vielleicht haben wir uns einfach schon an die Situation gewöhnt, wobei ich das als Gefahr sehen würde. Eigentlich müssen wir weiterhin jeden Tag erschüttert und geschockt sein; ich versuche, dass das Thema nicht einfach von der Bildfläche verschwindet. 

Ein weiteres wichtiges Thema war der Klimawandel, und ich habe mich sehr gefreut, als die jungen Erwachsenen ihre spontane Demonstration für Klimagerechtigkeit veranstaltet haben. Diese jungen Menschen sind glaubwürdige Führungspersonen in Bezug auf dieses Thema und sie zeigen immer wieder das Verantwortungsgefühl und den Enthusiasmus, die wir als Kirchen nicht verlieren dürfen. 

Vielleicht hätten wir noch etwas mehr aus den Ortsgemeinden in der Region hören können. Es war gut, dass der Eröffnungsgottesdienst aufgezeichnet und im nationalen Fernsehen ausgestrahlt wurde, und auch der kulturelle Abend in Krakau und die aktive Mitwirkung von Ortsgemeinden und Chören war sehr schön. Aber dennoch hätte ich persönlich gerne etwas mehr über die Herausforderungen erfahren, mit denen die Kirchen in der Region konfrontiert sind. 

Lassen Sie uns auf Ihre zweite Amtszeit als Vizepräsident für die Region schauen. Wo wollen Sie Schwerpunkte setzen? 

Als ich auf der Vollversammlung in Stuttgart das erste Mal in dieses Amt gewählt wurde, habe ich gesagt, dass ich Brücken zwischen unterschiedlichen theologischen Standpunkten zum Beispiel in Bezug auf die menschliche Sexualität und die Frauenordination bauen möchte. Das möchte ich auch jetzt fortführen, und ich möchte dafür sorgen, dass die Kirchen in unserer bunten und vielfältigen Gemeinschaft einander akzeptieren und dass niemand ausgegrenzt wird. 

Zweitens möchte ich meine Heimatregion im LWB vertreten. Als ich das letzte Mal diese Funktion innehatte, war in den Genfer Büros niemand aus der Region Mittel- und Osteuropa beschäftigt. Heute kommen die Generalsekretärin, der Regionalreferent und der Direktor der Abteilung für Planung und Koordination aus dieser Region, und ich freue mich über die ausgewogenere Vertretung. 

Drittens freue ich mich auf das Jubiläum des Augsburger Bekenntnisses 2030, das ein wichtiges ökumenisches Ereignis sein wird. In Ungarn macht unser Verhältnis zu anderen Kirchen Mut und die Zusammenarbeit ist gut – unser ökumenischer Rat ist schon 1943 gegründet worden. Aber der jüngste Zensus in unserem Land, der erst diese Woche veröffentlicht wurde, zeigt, dass erstmals 40 Prozent der Menschen nicht angegeben haben, ob sie einer Kirche angehören oder nicht. Alle Kirchen haben mit rückläufigen Mitgliedszahlen zu kämpfen; das ist also eine der großen Herausforderungen, die wir gemeinsam angehen müssen und bei der wir nicht in Wettstreit treten dürfen.

LWB/P. Hitchen