Vertrauen wagen – 30 Jahre nach der Friedlichen Revolution

08 Nov. 2019
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LWB-Ratsmitglied Bettina Westfeld zeigt ein Schrapnellkreuz, das aus den Schrapnellstücken geformt wurde, die während des Zweiten Weltkriegs als Bomben über Dresden und Coventry fielen. Foto: LWB/Albin Hillert

LWB-Ratsmitglied Bettina Westfeld zeigt ein Schrapnellkreuz, das aus den Schrapnellstücken geformt wurde, die während des Zweiten Weltkriegs als Bomben über Dresden und Coventry fielen. Foto: LWB/Albin Hillert

Interview mit LWB-Ratsmitglied Bettina Westfeld

Dresden, Deutschland/Genf (LWI) – Als Kind lebte Bettina Westfeld (Evangelisch-Lutherische Landeskirche Sachsens) in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR), dem Osten des seit 1949 geteilten Deutschlands. Im Interview mit den Lutherischen Welt-Informationen spricht die Dresdnerin über ihr Leben in einem kommunistischen Staat, dem Wert grenzüberschreitender Beziehungen und den Chancen des Neubeginns.

1989 ist ein Schlüssel- und Wendejahr deutscher Geschichte, das inzwischen 30 Jahre zurückliegt. Wie haben Sie persönlich diese Zeit erlebt?

Ich war 14 Jahre alt und ging in die 8. Klasse. Das neue Schuljahr hatte im September begonnen, aber von den 24 Schülerinnen und Schülern, die anfangs in meiner Klasse waren, waren nur noch 13 übrig. Die anderen waren innerhalb von sieben Jahren zusammen mit ihren Familien nach Westdeutschland ausgereist, einige über Nacht und ohne Abschied. Wir mussten davon ausgehen, dass wir unsere Klassenkameraden und Freundinnen erst im Alter von 60 Jahren wiedersehen könnten. Bis dahin hätten wir keine Reisegenehmigung bekommen. Niemand ahnte, dass sich das in kürzester Zeit ändern würde.

In Dresden gab es am 8. Oktober in einer spannungsgeladenen Atmosphäre eine große Demonstration gegen die Zustände in der DDR. Am folgenden Tag stand dazu in der Zeitung: „Es ist möglich miteinander zu reden“ – den Artikel habe ich noch heute in einer Mappe liegen und zigmal gelesen. Es war nämlich erstmalig gelungen, dass eine Abordnung der Demonstrierenden – die so genannte „Gruppe der 20“ – mit den Staatsorganen in Verhandlungen eingetreten war. Dialog wurde also als einziges Mittel der Konfliktbewältigung erkannt – das gewinnt heute wieder neue Aktualität, finde ich.

Danach überschlugen sich die Ereignisse. Am 18. Oktober trat Erich Honecker, Generalsekretär des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED), zurück. Sogar bei der Staatsführung änderte sich also etwas!

Am 4. November fand die große Alexanderplatz-Demonstration in Ost-Berlin statt, die in unserem DDR-Fernsehen sogar übertragen wurde. Als Familie saßen wir gebannt vor dem Gerät und lauschten jeder einzelnen Rede.

Auch die berühmte Pressekonferenz vom 9. November, mit der die Mauer fiel, verfolgten wir vorm Fernseher. Aber es dauerte bis zum nächsten Morgen bis uns die Tragweite dessen klar wurde. Wir konnten es gar nicht fassen, dass wir frei waren! Ab sofort konnten wir ohne Einschränkungen in den Westen reisen! Familien konnten einander wieder besuchen! Wir konnten ohne Angst unsere Meinung frei äußern!

Repressalien gab es in der DDR in unterschiedlichen Formen. Wie haben Sie vor diesem Hintergrund Ihr Christsein gelebt?

Schon in den ersten Schuljahren erlebte ich Gewissenskonflikte und schizophrene Situationen.

Ich war sehr gut in der Schule, und um mir Zukunftschancen nicht zu verbauen, schickten meine Eltern mich in die Pionierorganisation, die politische Jugendbewegung der DDR. Das war eine wichtige Voraussetzung, um das Abitur zu machen und studieren zu können.

Andererseits gehörte meine Familie zur christlichen Gemeinde und ich ging zur Christenlehre. Ich habe die Kirchengemeinde immer als Schutzraum empfunden, wo ich aufatmen konnte und nicht dauernd darauf achten musste, was ich sagte.

Diese beiden Lebenswelten brachten über kurz oder lang Konflikte mit sich. Als ich mich einmal für eine kirchliche Veranstaltung und gegen eine der Pioniere entschied, bekam ich in der Schule sofort eine schlechte Bewertung.

Aber ich erinnere mich auch daran, als Achtjährige 1983 beim Kirchentag in Dresden teilzunehmen, dessen Motto „Vertrauen wagen“ war. Diese Tage bedeuteten mir sehr viel – die Gemeinschaft, der Austausch, das Singen. Schon in dem Alter war mir jedoch klar, dass ich die christlichen Lieder außerhalb dieses Rahmens nicht würde singen können. Besonders eindrücklich fand ich den Abschlussgottesdienst im Großen Garten, dem Stadtpark hier in Dresden. Endlich waren wir als Christinnen und Christen die Mehrheit! Wie wunderbar es war, Gott so zu feiern!

Welche Bedeutung hatte das Eingebunden-Sein in eine weltweite christliche Gemeinschaft?

Unmittelbar wichtig für die Christinnen und Christen in der DDR waren die Partnerschaften nach Westdeutschland. Meine Dresdner Kirchengemeinde hatte beispielsweise eine Partnerschaft mit einer Kirchengemeinde in Braunschweig. Das war unser Tor zur Welt: Besuche und Beziehungen, die zwischen Familien gewachsen sind und bis heute halten.

Auf internationaler Ebene spielten Menschen wie Johannes Hempel eine wichtige Rolle. Er war von 1972 bis 1994 Landesbischof der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens, und pflegte enge Verbindungen zum Ökumenischen Rat der Kirchen (ÖRK). Die Direktoren der Diakonie oder Inneren Mission wiederum hatten starke Verbindung mit Lutherischen Weltbund (LWB).

Über diese Kontakte wurde beispielsweise Zugang zu theologischer und anderer Literatur möglich. Eine perfide Form der DDR-Repressalien war nämlich die Einschränkung von Papierkontingenten, so dass die Kirchen kaum in der Lage waren, Bücher zu drucken. Auch die Betreuung von Menschen mit Behinderungen erhielt über diese Kontakte hilfreiche neue Impulse, die sich nach und nach auf die gesamte DDR auswirkten.

Kurz und gut: unsere Beziehungen nach außen waren unglaublich wichtig. Und nach der Friedlichen Revolution waren sie existenzsichernd, weil viele kirchliche Einrichtungen inzwischen dermaßen marode waren, dass sie hätten aufgegeben werden müssen.

Die Dresdner Frauenkirche steht international als Mahnmal für den Frieden. Was für eine Bedeutung hat dieser Ort für Sie?

Ein Thema, das Menschen in Ost und West gleichermaßen beschäftigte, war das Auf- und Wettrüsten auf beiden Seiten. Der Ruf nach Frieden in der Welt und die jährliche ökumenische Feier der Friedendekade spielte in unserer Partnerschaftsarbeit und vor Ort eine große Rolle.

Seit der Bombennacht 1945 war von der Frauenkirche nur ein Trümmerhaufen übrig. Mit meinen Eltern ging ich jedes Jahr zum ökumenischen Gedenk- und Friedensgottesdienst, bei dem dort Kerzen hingestellt wurden. Als die Kirche nach der Friedlichen Revolution wiederaufgebaut werden sollte, war ich sehr skeptisch, ob es gelingen würde, sie als Mahnmal zu erhalten.

Aber es sind deutliche Spuren der Zerstörung in und an der Frauenkirche sichtbar geblieben. Wenn ich heute mit meinen Kindern dorthin gehe, können wir einerseits das alte zerschmolzene Turmkreuz sehen, das in der Kirche steht, aber auch das neue, das vom Sohn eines der englischen Bomberpiloten aus Coventry gestiftet wurde. Man darf nämlich nicht vergessen, dass diese Stadt von deutschen Bomberpiloten in Schutt und Asche gelegt worden war. Die Versöhnungsarbeit zwischen Coventry und Dresden, und zwischen verfeindeten Nationen, gelang und gelingt über diese sichtbaren Zeichen und über menschliche Beziehungen.

Wie ging es nach der Friedlichen Revolution für Sie weiter?

Für mich als 14-jährige Jugendliche bedeutete die Friedliche Revolution eine Fülle an Freiheiten und Möglichkeiten, an die wir uns allerdings erst gewöhnen und ausprobieren mussten.

Zwei Dinge möchte ich herausheben: Die Schule wandelte sich für mich von einem lebensfeindlichen Ort zu einem Ort, wo man seine Meinung sagen kann. Unter diesem Vorzeichen bin ich wirklich gern zur Schule gegangen. Viele Lehrkräfte waren durch die neue Situation verunsichert, aber wer charakterstark war, konnte die Veränderung als Chance sehen, gemeinsam Neues zu entwickeln.

Und dann war da meine Konfirmation. Die hätte üblicherweise erst in der 9. Klasse stattfinden sollen, um Konflikte mit der Jugendweihe zu vermeiden. Nun aber sahen wir keinen Grund, sie aufzuschieben. 1990 wurden in meiner Kirchengemeinde also zwei Jahrgänge gemeinsam konfirmiert – für mich ein großartiges Ereignis und die Grundlage für mein kirchliches Engagement bis heute.

Wie sah es bei den älteren Generationen aus?

Für die Generation meiner Eltern stellte war die Zeit nach der Friedlichen Revolution wesentlich komplizierter und einschneidender. Viele Menschen verloren ihren Arbeitsplatz und für viele waren die Offenlegungen über vermeintliche oder tatsächliche Stasi-Mitarbeit sehr belastend. Dieser Riss ging auch quer durch Kirchengemeinden.

Andererseits fanden sich viele Kirchenmitglieder in politischer Verantwortung wieder und insgesamt hatte die Kirche in dieser Umbruchsituation eine stabilisierende Funktion. Es gab in der Gesellschaft viel Respekt für und Vertrauen in die Kirche und ihre Mitglieder.

Das brachte ganz neue Herausforderungen mit sich: war die Kirche vorher geächtet, musste sie ihre öffentliche Rolle ausfüllen. Statt über Friedensmärsche musste nun über Militärseelsorge, statt Christenlehre in der Gemeinde über Religionsunterricht an Schulen diskutiert werden.

Auch derzeit sind wir als sächsische Landeskirche gefragt, ein Ort des Dialogs zu sein und Menschen Schutz zu gewähren, deren Würde angegriffen wird. Auch das langjährige Engagement zur Bewahrung unserer Schöpfung gemeinsam mit unseren ökumenischen Geschwistern ist heute genauso aktuell wie vor dreißig Jahren.

 

Stimmen aus der Kirchengemeinschaft:

Der Lutherische Weltbund (LWB) ist eine weltweite Gemeinschaft, deren Mitglieder sich gemeinsam für das Werk und die Liebe Christi in der Welt einsetzen. In dieser Reihe präsentieren wir Kirchenleitende und Mitarbeitende, die über aktuelle Themen sprechen und Ideen entwickeln, wie Frieden und Gerechtigkeit in der Welt geschaffen werden und die Kirchen und die Gemeinschaft in ihrem Glauben und ihrem Engagement wachsen können.

 

 

LWF/OCS