Wie Kinder im Irak mit Gewalt und Vertreibung umgehen
Dohuk, Irak/Genf, 23. November 2015 (LWI) – Im Alter von zwölf Jahren weiss Besna aus dem Irak bereits, was es heisst, sein Zuhause zu verlieren. „Ich vermisse meine Bücher und meine Sachen, meine Videospiele und meinen Laptop“, sagt das Mädchen mit dem grünen T-Shirt. „Zu Hause konnte ich einfach nach draussen gehen und mit meinen Freundinnen und Freunden spielen. Hier habe ich aber kein Zuhause, und ich weiss nicht, wo meine Freundinnen sind. Ich habe gehört, dass eine von ihnen jetzt in Frankreich lebt.“
Besna ist das älteste der sechs Kinder, die mit ihren Familien in der St. Peter und Paul-Kirche in Dohuk leben. Die 51 Menschen, die sich einen Raum teilen, haben den ihnen zugewiesenen Platz mit gespendeten Möbeln abgetrennt, um wenigstens etwas Privatsphäre zu haben. Was aussieht, als hätten sich Kinder eine Hütte aus Möbeln zu bauen versucht, ist die bittere Wirklichkeit für diese acht Familien, seit Mossul im Juni 2014 von den IS-Milizen eingenommen wurde. Es gibt Kinder und Erwachsene, Eltern und Grosseltern, die gemeinsam zwei Badezimmer und eine kleine Küche nutzen müssen.
Keine Schule, kein Platz zum Spielen
Wie alle anderen, die hier Zuflucht gefunden haben, hat Besna dunkle Ringe unter den Augen, Zeichen von Erschöpfung und Schlafmangel. „Es ist sehr laut hier“, sagt sie. Mit Herannahen der kalten Jahreszeit verbringen die Menschen immer mehr Zeit innerhalb der gemeinsamen Unterkunft. Obwohl die Schule vor zwei Monaten wieder angefangen hat, liegen die blauen Rucksäcke unbenutzt auf den Sofas und den behelfsmässigen Regalen.
Nachdem viele Schulen in Dohuk monatelang als Unterkunft für die Vertriebenen gedient haben, müssen sie renoviert werden. In den noch verbliebenen Klassenzimmern drängen sich die örtlichen Kinder und der Nachwuchs der geflüchteten Familien, der Unterricht erfolgt täglich in zwei Schichten. Bis eine Lösung für die Situation gefunden wird, müssen sich Besna und die anderen Kinder in St. Peter und Paul den Lehrstoff selbst erarbeiten.
„Am schwierigsten ist diese Situation für Kinder“, erzählt Nura, die mit zwei Söhnen in St. Peter und Paul lebt. „Sie haben keinen Platz zum Spielen oder um ihre Hausaufgaben zu machen, und sie können nicht schlafen.“ Als sie aus Mossul geflüchtet ist, war ihr jüngstes Kind 14 Monate alt.
Albträume nach den Schiessereien
Etwa eine Fahrstunde von Dohuk entfernt, in dem ländlichen Bezirk Chamanke, versucht Aqela Ibrahim, ihre neun Monate alte Nichte zum Mittagsschlaf hinzulegen. Die Mutter hatte das Baby in der Notunterkunft ohne ärztliche Versorgung und nur mit Hilfe der anderen Frauen dort zur Welt gebracht. „Gott sei Dank leben wir noch“, sagt Majeed Alli, der Vater des Kindes. „Als wir geflohen sind, wurde überall geschossen, es fielen Bomben, und meine [anderen] Töchter hatten Angst. Nachts weinen sie immer noch im Schlaf oder bleiben wach, weil sie Angst vor Albträumen haben.“
Die Lebensumstände in Chamanke sind vergleichbar mit der Situation in Dohuk, mit dem einzigen Unterschied, dass sich die Familien hier mit Pappe und Sperrholz separate Räume abgetrennt haben. Ein Fernsehgerät mitten im Gemeinschaftsraum bietet die einzige Unterhaltung. Weinende Kinder, schimpfende Erwachsene und die TV-Nachrichten sind durch die Pappwände überall zu hören.
Während Majeed Alli erzählt, verschwinden seine älteren Töchter hinter einer der selbstgebauten Türen und kommen bald danach in grauen Schuluniformen und blauen Rucksäcken zurück: Die Flüchtlingskinder haben nachmittags Unterricht, weil die örtliche Schule keinen Platz hat, alle Kinder gleichzeitig zu unterrichten.
„Wir sind Löwen!“
„Wer seid ihr?“, fragt der Lehrer die Schülerinnen und Schüler zur Begrüssung. „Wir sind Kurden! Wir sind Löwen!“ rufen die Kinder wie mit einer Stimme. Die 70 Schülerinnen und Schüler der Nachmittagsklasse gehören zu Familien, die aus Sindschar geflüchtet sind. Der Lehrer, Saad Hassan Ahmed, ist selbst ein Binnenvertriebener und kennt sogar einige seiner Schützlinge aus seiner Heimat. „Für die Kinder ist es schwer“, sagt er. „Sie lernen nicht gut. Viele leben in überfüllten Gemeinschafts-Notunterkünften, es gibt keinen ruhigen Platz, um Hausaufgaben zu machen.“
Der Lutherische Weltbund (LWB) stellt den Familien Lebensmittel, Kleidung und Sanitärartikel zur Verfügung. Die Vereinten Nationen helfen den Schülerinnen und Schülern mit Schuluniformen und den unverkennbaren blauen Rucksäcken, die Bücher und Schreibutensilien enthalten. Zwar ermöglicht diese materielle Hilfe die Teilnahme der Kinder am Schulunterricht, aber sie können nicht ungeschehen machen, was die Kinder erlebt haben. Den Lehrern zufolge sprechen die Kinder oft von Zuhause, von Freundinnen und Freunden und von Spielsachen, die sie zurücklassen mussten, und von ihren Erlebnissen während der Flucht.
„Auch Monate später erinnern sie sich sehr lebhaft“, sagt Ahmed. „Meine Kinder schreien manchmal im Schlaf: ‚Sie kommen!‘ Wir sind auf der Flucht an Toten vorbeigelaufen, und die Kinder haben mich gefragt: ‚Warum schlafen die? ‘“ Allen Lehrern an der Schule fällt auf, wie erschöpft und müde die Kinder sind und wie schwer es ihnen fällt, dem Unterricht zu folgen. „Wir Erwachsenen sind ja selbst betroffen, wir sind vergesslicher und können uns manchmal nicht konzentrieren“, sagt Ahmed. „Stellen Sie sich vor, wie es dann den Kindern geht.“
Der LWB unterstützt vertriebene Familien im Nordirak mit Lebensmitteln, Sanitärpaketen und anderen Hilfsgütern wie Winterkleidung. Der LWB betreibt ebenfalls Frauenzentren, in denen sich Frauen und Kinder mit Zeichnen und Handarbeiten beschäftigen können und psychosoziale Hilfe erhalten. Gemeinsam mit seinem örtlichen Partner, der Jiyan Foundation, bietet der LWB Beratung und psychosoziale Unterstützung für traumatisierte Menschen an.