Eine zweite Chance in Kakuma

21 Okt. 2022
Image
Eine Gruppe ALP-Schülerinnen in der Grundschule Bahr El Nahm. Fotos: LWB/C. Kästner

Eine Gruppe ALP-Schülerinnen in der Grundschule Bahr El Nahm. Fotos: LWB/C. Kästner

Beschleunigtes Lernprogramm des LWB unterstützt Schülerinnen aus Konfliktzonen

KAKUMA, Kenia/GENF (LWI) – Rose Imoya Banner ist das, was die kleinen Mädchen als „Big Mama“ bezeichnen. Mit ihrem Alter von 24 Jahren ist die junge Frau nicht nur eine Ausnahme im Vergleich zu ihren Mitschülerinnen in der Grundschule von Bahr El Nahm im Flüchtlingslager Kakuma. Selbst in der Gruppe der lernenden Erwachsenen gehört sie zur „Seniorenliga“.

Im Gegensatz zu anderen Frauen in der gleichen Situation kann sie mit diesen Neckereien jedoch gut umgehen, denn die Wahrheit ist: Banner hat in der Tat zwei Kinder und ist mehr als dankbar für die Chance, einiges an verpasster Bildung nachholen zu können. „Ich möchte etwas lernen, auch im Interesse meiner Kinder“, sagt sie.  Ihr ältestes Kind, das jetzt sechs Jahre alt ist, geht inzwischen selbst zur Grundschule.

 

Rose Imoya auf dem Schulhof.

Konflikte und Bildung

Der Lutherische Weltbund (LWB), der für die Schulbildung im Flüchtlingslager Kakuma zuständig ist, hat im September 2016 das „beschleunigte Lernprogramm“ (Accelerated Learning Program – ALP) eingeführt, das besonders auf die Bedürfnisse junger Menschen aus Konfliktzonen ausgerichtet ist. Viele von denen, die das Lager erreichen, sind im Teenager-Alter und konnten aufgrund von Konflikten und Vertreibungen nicht regelmäßig zur Schule gehen. Um die verpasste Schulbildung aufzuholen, nehmen sie am Unterricht für Sieben- bis Achtjährige teil – eine schwierige Situation für alle Lernenden.

Das ALP fasst sie deshalb in besonderen Klassen zusammen. Mit Gleichaltrigen lernen sie den Lehrstoff aus zwei Jahren Grundschule innerhalb eines einzigen Kalenderjahres. Nach Beendigung dieses Jahres absolvieren sie die Grundschul-Abschlussprüfung und können dann, wenn alles gut gelaufen ist, in die weiterführende Schule in eine Klasse mit Gleichaltrigen wechseln.

„Sie sind sehr intelligent und motiviert und schneiden bei den nationalen Prüfungen extrem gut ab“, sagt Lillian Cherotich, die die Bahr El Nahm-Schule leitet. Die offiziellen Ergebnisse dieser Prüfungen geben ihr Recht – die Schülerinnen der LWB-Schulen in Kakuma gehören meistens zu den 10 Besten im Land.

Überfüllt, unterbesetzt – und motiviert

Die Schulen haben einen guten Ruf, dementsprechend hoch sind die Anmeldungen. Angesichts der Lernsituation in Kakuma ist dies überraschend. Die Turkana-Region, in der sich das Lager befindet, ist extrem heiß. Selbst im Winter steigen die Temperaturen bis 30°Celsius, Im Sommer sind es oft bis zu 50°C. In der Regenzeit reißen Wassermassen die Häuser mit sich, Trinkwasser und Lebensmittel sind immer knapp. Die Schulen entspannen diese Situation durch Schulspeisungen: zu Mittag erhalten alle Schülerinnen kostenlos eine Portion Brei.

 

In der Unterrichtspause gibt es eine Portion Brei.

Die Klassenzimmer sind so überfüllt, dass eine geregelte Lernsituation zwischen Lehrkraft und Lernenden kaum möglich ist. „Wir haben 138 Schülerinnen in einer Klasse, so dass es für die Lehrkräfte fast unmöglich ist, sich im Klassenzimmer zu bewegen“, sagt die Schulleiterin. „Wir brauchen dringend mehr Schulbücher, mehr Stifte, mehr Schulbänke“, fügt sie hinzu.

Schularbeiten und Kinderbetreuung

Die 464 Teilnehmerinnen des ALP-Programms befinden sich in der gleichen Situation. Sie verteilen sich auf drei Klassen mit jeweils etwa 140 Schülerinnen. Dazu kommen weitere Herausforderungen, wie die Schulleiterin beobachten konnte. Viele sind Haushaltsvorstände – sie sind die Ältesten in einer Gruppe von Geschwistern und müssen sich um die Familie kümmern. „Diese Schülerinnen fehlen oft“, sagt Cherotiut. „Sie müssen Lebensmittelrationen besorgen oder zu Hause bleiben, wenn eines der Geschwister krank ist.“

Zwar leben in Kakuma zurzeit Flüchtlinge aus 23 Ländern, aber die meisten ALP-Teilnehmerinnen kommen aus dem Südsudan. „40 Prozent der südsudanesischen Schülerinnen in unseren Schulen sind älter, als dies normalerweise der Fall wäre. In manchen Schulen erreicht ihr Anteil 50 Prozent“, sagt die Lehrerin. „Diese jungen Frauen sprechen oft über den Krieg.“

Im Südsudan sind Kinderehen an der Tagesordnung, und im Gegensatz zu Rose Banner gehen diese Mädchen nicht wieder in die Schule, wenn sie verheiratet sind. Banner hat Probleme, Kinderbetreuung und Schulbildung unter einen Hut zu bringen. „Ich lasse meine Kinder zu Hause unter der Obhut von Verwandten, aber ich habe keine Zeit, den Lernstoff zu vertiefen, wenn ich wieder zu Hause bin“, sagt sie.

 

ALP-Schülerinnen der Bahr El Naam Mädchenschule im Flüchtlingscamp Kakuma.

Die alleinstehende Mutter muss Wasser holen, manchmal von mehreren Kilometer entfernten Wasserstellen, und Mahlzeiten zubereiten. Oft muss sie auch die Schulaufgaben ihres ältesten Kindes beaufsichtigen. „Manchmal, wenn wir Strom haben, lerne ich nachts“.

Etwas zurückgeben

Mit dem derzeitigen Schüler-Lehrkräfte-Verhältnis ist es schwierig für das Lehrpersonal, Schülerinnen wie Banner zu unterstützen. Lerngruppen bei den ALP-Teilnehmerinnen sowie deren Motivation machen vieles wett. Banner weiß ihre zweite Chance auf Bildung zu schätzen, und sie weiß auch, dass sie diese Chance in ihrem Heimatland nie hätte.  „Ich habe hier in Kakuma so viele Möglichkeiten. Ich kann zur Schule gehen – ich glaube nicht, dass das woanders möglich wäre“, sagt sie.

Obwohl sie so viele Jahre versäumt hat, ist sie entschlossen, auch die weiterführende Schule erfolgreich abzuschließen, wenn es so weit ist. „Ich möchte später Arbeit finden, vielleicht als Lehrerin“, sagt sie. „Es gibt hier so viele Menschen, die nach wie vor keine Schulbildung haben. So, wie ich hier lernen durfte, so möchte ich auch andere Menschen unterrichten.“

Das beschleunigte Lernprogramm des LWB wird von der Europäischen Union finanziert (ECHO). 2016 haben 100 ALP-Teilnehmende die nationale Abschlussprüfung der Grundschule in Kakuma bestanden. Zurzeit sind 464 erwachsene Lernende angemeldet. Mit der Finanzierungshilfe von ECHO führt der LWB ebenfalls ALP-Projekte in Flüchtlingslagern im Südsudan und in Dschibuti durch.

LWF/OCS