„Der Welt draussen die Stirn bieten“
Sanogoan (Nepal)/Genf, 13. April 2016 (LWI) – „Das Erdbeben hat uns geeint, uns gezwungen, der Welt draussen die Stirn zu bieten, und unsere eigene Kraft zu entdecken.“ In Nepal haben die Frauen beim Wiederaufbau die Führung übernommen. Mit Unterstützung des Lutherischen Weltbundes (LWB) sagen sie zunehmend deutlicher ihre Meinung und bauen ihre Häuser und ihr Leben wieder auf. Heute Mittag brennt die Sonne in Sanogoan, einem kleinen Dorf der Newar am Rand des Kathmandu-Tals, wo seit dem Erdbeben 2015 nur noch Zelte stehen. Einige Frauen in Gummistiefeln, bunten Kurtas und Hosen haben sich Tücher um Köpfe und Rumpf geschlungen und trotzen den aufwirbelnden Staubwolken. Sie verrichten schwere Arbeit – formen grosse Bausteine aus einer Mischung aus nasser Erde, Sand und Zement. Die Zementsteine, von denen jeder neun Kilo wiegt, werden in der Sonne zum Trocknen aufgeschichtet. Die Frauen scherzen miteinander und mit allen, die vorbeikommen. Sie wirken stark und einig und sind zweifellos in der Lage, ihr Dorf wieder aufzubauen.
Das Bedürfnis zu sagen, was sich im Herzen abspielt
Kabita Shrestha ist eine dieser Frauen. „Mir wurde beigebracht, dass es als Frau gefährlich ist, mit Fremden zu sprechen. Früher war ich schüchtern und habe mich linkisch gefühlt. Ich ging in meiner Haus- und Feldarbeit auf“, erinnert sich Kabita. Als Mädchen hat sie die Schule abgebrochen, weil sie ihre kranke Mutter und ihren jüngeren Bruder versorgen musste. Kaum zu glauben, dass sich diese kontaktfreudige 32-Jährige früher im Haus versteckte, wenn Fremde ins Dorf kamen.
Das Erdbeben, das Nepal im April 2015 heimsuchte, hat Kabitas Leben auf den Kopf und ihre Identität und Rolle als alleinstehende, ungebildete Frau infrage gestellt. Inzwischen stellt Kabita in Vollzeit Zementsteine her und gibt regelmässig Interviews: „Heute habe ich das Bedürfnis alles zu sagen, was sich in meinem Herzen abspielt.“
Damit ist Kabita nicht allein. Im ganzen Land stellen sich Frauen der Herausforderung, ihr Leben wieder aufzubauen. Sie packen die Probleme an und ergreifen die Chancen, die die Katastrophe gebracht hat.
Geber setzen Vertrauen auf die Frauen
Die meisten haben auch keine Wahl. Nach Daten der Volkszählung von 2011 stehen Frauen 25,7 Prozent aller Haushalte in Nepal vor. Tatsächlich ist der Anteil möglicherweise noch höher. Hauptgrund dafür ist die Arbeitsmigration. Um ihre Familie ernähren zu können, verlassen viele nepalesische Väter das Land auf der Suche nach Arbeit in den Golfstaaten, in Indonesien und Malaysia. Aufgrund dieser weitverbreiteten Arbeitsmigration gibt es ganze Dörfer ohne Männer. Flüge sind teuer, deswegen kommen sie oft jahrelang nicht nach Hause und die Frauen müssen allein mit den Problemen des Alltags fertigwerden. Die Verluste an Menschenleben durch das Erdbeben haben das Ungleichgewicht noch verschärft. Nach Schätzungen von UN-Frauen gibt es in den 13 am schwersten betroffenen nepalesischen Distrikten etwa 318.000 Haushalte mit weiblichem Vorstand.
„Die Frauen bringen sich in den Entscheidungsprozess im Zusammenhang mit dem Wiederaufbau ein. Die Geber setzen Vertrauen auf die Frauen – sie sind tendenziell verantwortungsbewusster. Das hat die Verhandlungsposition der Frauen gestärkt“, erklärt Nani Maya Thapa, Direktorin des Rural Women Creative Forum, einer Partnerorganisation von LWB-Nepal.
Katastrophen verschärfen Ungleichheit
Thapas Organisation ist in Sindhupalchowk, einem der am schwersten betroffenen Distrikte, aktiv. Sie vergibt Barzuschüsse an Frauen, die sich damit selbständig machen. Die meisten Frauen starten eine Ziegenzucht, andere eröffnen Läden, lernen zu nähen oder bauen Gemüse an. In den vom LWB unterstützten Distrikten bauen sich 75 Prozent der Frauen mithilfe solcher Zuschüsse eine Existenz auf. Zusätzlich werden sie psychosozial begleitet und bei der Wiederherstellung der Grundversorgung des Gemeinwesens unterstützt.
Die Zementstein-Herstellerinnen in Sanogoan zeigen wie wichtig es ist, dass wir Frauen in den Mittelpunkt der Katastrophenbewältigung stellen. Die Befähigung von Frauen zum verbesserten Risikomanagement und eine Erweiterung ihrer Entwicklungschancen sind von grundlegender Bedeutung für eine bessere Katastrophenvorsorge und -hilfe. Dr. Prabin Manandhar
Direktor des LWB-Programms in Nepal
Die Unterstützung hilft den Frauen ganz entscheidend dabei, ihre Verluste zu bewältigen. Katastrophen haben oft zur Folge, dass in der Gesellschaft vorhandene Ungleichheiten noch verschärft werden. Auch in Nepal ist das nicht anders. Hier sind nur wenige Frauen Eigentümerinnen von Grund und Boden, vor dem Erdbeben waren es 28 Prozent. Über ein Viertel der Frauen besitzen keinen Nachweis über ihre Staatsangehörigkeit. Entsprechend haben sie Probleme, einen Ausweis als Erdbebenopfer zu erhalten, den sie brauchen, um staatliche Hilfe in Anspruch nehmen zu können, und Dokumente über ihren Grundbesitz zu beantragen. Für Frauen ist es zudem schwieriger, sich Kredite und einen finanziellen Ausgleich für die erlittenen Schäden zu verschaffen, wenn sie keinen männlichen Bürgen haben.
Seit dem Erdbeben hat überdies die Gewalt gegen Frauen zugenommen. „Die Opfer schweigen vielfach, weil sie noch dringendere Probleme haben. Aber inoffiziell erfahren wir, dass es zunehmend mehr sexuelle Übergriffe auf Frauen gibt, die in Zelten oder Notunterkünften leben“, berichtet Thapa und ergänzt, aufgrund des gestiegenen Alkoholkonsums nehme auch die Gewalt in Familien zu, von der Frauen und Kinder gleichermassen betroffen seien.
Ausserhalb des gewohnten Bereichs engagiert
Madhu Suman ist als Mitarbeiterin von LWB-Nepal seit Mai letzten Jahres in Sanogoan vor Ort und hat persönlich erlebt, wie sich die Frauen emanzipieren. „Als ich hierherkam, sagten die Frauen bei Zusammenkünften kaum etwas. Das Erdbeben hat sie dazu gezwungen, sich über ihren gewohnten Bereich hinaus zu engagieren. Heute sagen sie deutlich ihre Meinung und haben beim Wiederaufbau die Führung übernommen.“
Ein Projekt, in dessen Rahmen Zementsteine hergestellt werden, gibt es so nur in Sanogoan, aber im ganzen Land warten Frauen auf staatliche Genehmigungen und Unterstützung, damit sie mit dem Wiederaufbau ihrer Häuser beginnen können. Möglich macht das Projekt in Sanogoan eine Partnerschaft zwischen LWB-Nepal und der Organisation Grassroot Movement in Nepal (GMIN), die die nötige Technologie und das Material beisteuert sowie die erforderlichen Fertigkeiten vermittelt und die Arbeit begleitet. Sanogoan wird von ACT Alliance als Modelldorf gefördert. Das heisst, dass sämtliche zum Wiederaufbau des Dorfes erforderlichen Unterstützungsmassnahmen von ACT-Organisationen geleistet werden. Der LWB ist in diesem Zusammenhang für die Baumassnahmen und die Zementsteinproduktion zuständig. Andere Partner decken den Bereich sanitäre Anlagen sowie die psychosoziale Betreuung ab.
Erst am späten Nachmittag beenden die Frauen in Sanogoan die Zementsteinproduktion. „Die Arbeit ist wirklich schwer“, stellt Purneshwori Shrestha fest. „Wenn wir Zementsteine machen, tut uns hinterher alles weh, und daheim wartet noch mehr Arbeit. Aber es gibt keinen anderen Weg. Wenn wir unsere Häuser wieder aufbauen wollen, müssen wir durchhalten.“
Sie haben Grosses vor
Die harte Arbeit zahlt sich aus: In gerade einmal drei Monaten haben die Frauen 80.000 Zementsteine hergestellt. Mit 200.000 werden sie das Erdgeschoss aller Wohnhäuser im Dorf bauen können. Aber sie haben Grosses vor – die Häuser sollen zweieinhalb Geschosse bekommen.
Und es geht noch weiter: „Beim Zementsteine-Machen reden wir darüber, wie wir als Gruppe zukünftig bezahlte Arbeit finden können“, erzählt Kabita. „Wir können gegen Entlohnung Zementsteine produzieren, sind als Maurerinnen einsetzbar oder können im Tourismus arbeiten. Ein paar träumen davon, einen kleinen Laden oder einen Kosmetiksalon aufzumachen.“
„Die Zementstein-Herstellerinnen in Sanogoan zeigen wie wichtig es ist, dass wir Frauen in den Mittelpunkt der Katastrophenbewältigung stellen“, betont Dr. Prabin Manandhar, Direktor des LWB-Programms in Nepal. „Die Befähigung von Frauen zum verbesserten Risikomanagement und eine Erweiterung ihrer Entwicklungschancen sind von grundlegender Bedeutung für eine bessere Katastrophenvorsorge und -hilfe.“
Ein Beitrag von Lucia de Vries, LWB-Nepal.