Nepal: Heilung unsichtbarer Wunden

05 Jan. 2016
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Psychosoziale Betreuung für Erdbebenopfer

Ghusel (Nepal)/Genf, 4. Januar 2016 (LWI) – Es ist Samstagvormittag im nepalesischen Ghusel, einem Dorf, das vor einem halben Jahr fast vollständig von einem Erdbeben zerstört wurde. Vom Dorfplatz her ertönt ein Harmonium, wenig später stimmen Tabla, Tamburin und nepalesische Trommel ein. Stimmen nehmen die Melodie auf und ein religiöses Lied schallt über die Berge des Distrikts Lalitpur.

Krishna Kumari Mahat gehört zu den gut 50 DorfbewohnerInnen, die sich ein-, zweimal die Woche hier treffen, um gemeinsam zu singen. „Ich habe mir immer Bhajans im Radio angehört. Dass ich sie selbst gemeinsam mit meinen Freundinnen und Freunden singe, macht mich stolz und froh. Am liebsten singe ich die Lieder, die Krishna gewidmet sind. Ich wünschte, ich könnte jeden Tag hier singen“, erzählt sie.

Völlig zerstört

In Ghusel sind die Folgen des schweren Erdbebens, das Nepal vor einem halben Jahr heimsuchte, noch deutlich sichtbar: Bis auf fünf wurden alle 355 Häuser entweder vollständig zerstört oder schwer beschädigt. Die Menschen leben in provisorischen Unterkünften, die sie aus dem Holz ihrer zerstörten Häuser, aus Bambus und Planen errichtet haben. Fünf Menschen kamen ums Leben, neun erlitten schwere Verletzungen.

Die unsichtbaren Wirkungen der Katastrophe bemerkt man nicht ganz so schnell. Die massiven Zerstörungen, die jener sonnige Samstagnachmittag im April 2015 brachte, haben Wunden geschlagen, die Zeit und manchmal auch professionelle Hilfe brauchen, um zu heilen.

Es ist bekannt, dass Naturkatastrophen wie Erdbeben psychologische Folgen haben können. Oft ziehen sie posttraumatische Belastungsstörungen (PTBS), sowie Anpassungs- und Angststörungen, Panikattacken und Depressionen nach sich. Die meisten Menschen, die durch die vielen Nachbeben  Stress und andauernder Angst und Unsicherheit ausgesetzt sind, erholen sich mit der Zeit ohne Hilfe. Allerdings bleibt ein kleiner Anteil Betroffener, die langfristig mit psychologischen Problemen zu kämpfen haben und professionelle Hilfe brauchen.

Auf andere Gedanken kommen

Gemeinschaftserlebnisse wie das gemeinsame Singen in Ghusel gehören zu den Massnahmen, die das Nepalprogramm des Lutherischen Weltbundes (LWB) in diesem Zusammenhang durchführt. Der LWB leistet psychosoziale Betreuung  von Erdbebenopfern in fünf Distrikten. Das Programm umfasst  Massnahmen für die Dorfgemeinschaft, Seminare und die Vermittlung therapeutischer Hilfe.

In den Dörfern wird versucht, die Menschen, die fast permanent in der Erinnerung an das Erdbeben und in den vielfältigen Sorgen, die sie seither quälen, gefangen sind, auf andere Gedanken zu bringen. Zudem sollen sie ermutigt werden, das, was sie beschäftigt, offener zu artikulieren. Freizeitangebote für unterschiedliche Altersgruppen ermöglichen es den Teilnehmenden, sich auszutauschen und über ihre Gefühle zu sprechen.

Der Zugang zu älteren Menschen entsteht durch gemeinsames Singen, ein Angebot, was sehr populär ist. Frauengruppen werden dabei unterstützt, Gesangswettbewerbe durchzuführen. Für Jugendliche und junge Erwachsene haben sich Möglichkeiten zu sportlicher Betätigung bewährt. Kinder können an künstlerischen und musikalischen Angeboten in der jeweiligen Dorfschule teilnehmen.

Die Schule in Ghusel gehört zu den vielen Gebäuden, die das Erbeben zerstört hat. Derzeit sind die über 200 SchülerInnen auf provisorische Schulräume aus Bambus und Blech ausgewichen. In den Gebäuden ist es dunkel und kalt, aber freitags ist der Lehrplan anders und damit auch die Atmosphäre.

Seit ihnen der LWB Farbstifte und Papier zur Verfügung gestellt hat, treffen sich die SchülerInnen zum Ende der Schulwoche und malen. Die meisten SchülerInnen möchten ihr Bild mit nach Hause nehmen und es ihren Eltern zeigen, aber ein paar sind bereit, ihre Kunstwerke zur Verschönerung der Blechwände zur Verfügung zu stellen. Mit den Kleineren werden lustige Lieder gesungen, deren Inhalt mit Handbewegungen nachgespielt wird. Beim Singen wird viel gelacht und geklatscht.

Psychische Probleme sind ein Tabuthema

„Bei dem Begriff psychosoziale Betreuung denken wir meist nur an formelle psychologische Beratung“, stellt Pradeep Subedi fest, der beim LWB für die psychosoziale Arbeit im Distrikt Lalitpur zuständig ist. „Aber in einem Land wie Nepal, wo psychische Probleme nach wie vor ein Tabuthema sind, ist es sinnvoll, diese Arbeit in gemeinsame Aktivitäten einzubetten.“

Subedi kennt sich aus mit psychischen Problemen. Seit seiner Kindheit leidet er an Hämophobie, das heisst, extremer Angst vor Blut. „Ich dachte, ich sei ein Versager, bis ich meine Symptome im Internet gesucht habe und sich herausstellte, dass Millionen Menschen weltweit an der gleichen Krankheit leiden.“ Subedi ist heute Psychologe und arbeitet seit dem Erdbeben für den LWB in Nepal.

Der LWB organisiert in Nepal Seminare für die Verantwortlichen in den Dörfern, darunter Lehrkräfte, ehrenamtliches Gesundheitspersonal, traditionelle HeilerInnen und Mitarbeitende in der Jugendarbeit. In den Seminaren wird ihnen Wissen über psychische Erkrankungen vermittelt und das B0ewusstsein dafür geweckt, wie wichtig professionelle Hilfe ist. Bisher hat Subedi fünf Personen aus Ghusel und 65 aus dem Distrikt insgesamt eine professionelle Psychotherapie vermittelt. „Das klingt nach einer kleinen Anzahl und es ist auch tatsächlich schwierig, die Wirksamkeit unserer Arbeit zu messen“, erläutert er. „Aber die Rückmeldungen, die wir bekommen, lassen darauf schliessen, dass das Programm den Erdbebenopfern dabei hilft, psychische Probleme zu erkennen und zu bewältigen.“

Derartige Massnahmen werden unterstützt durch ein Radioprogramm mit dem Titel „Bhandai Sundai“ (Sprechen und Zuhören), das national ausgestrahlt wird und Erdbebenopfern die Möglichkeit gibt, im Rundfunk Fragen zu stellen und über ihre Sorgen, Ängste und Traumata zu sprechen.

Das Dorf findet zusammen

Nach dem gemeinsamen Singen kehrt Krishna Kumari in ihre Notunterkunft zurück. „Ich mache mir oft Sorgen um unser Haus, wie und wann wir es wieder aufbauen können, wenn überhaupt“, erklärt sie. „Auch die Kälte macht mir Sorgen und die Schulausbildung meiner Enkel. Aber wenn ich singe, vergesse ich meine Sorgen für eine Weile. Ich spüre die Gemeinschaft mit den anderen Menschen im Dorf, die alle dasselbe durchgemacht haben. Es hat 15 Jahre gedauert, bis das Dorf zusammengekommen ist, um Bhajans zu singen. Das ist wenigstens etwas Gutes, was das Erdbeben gebracht hat.“

Zum Abschied sagt sie noch: „Kommen Sie nächstes Mal wieder. Dann wird es mir schon viel besser gehen.“

Ein Beitrag von LWB-Korrespondentin Lucia de Vries (Nepal).

Wir bitten um Spenden an den LWB-Hilfsfonds für Nepal

LWF/OCS
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